12. August 2021 - Die moderne Naturmedizin verbindet ein ganzheitliches Menschenbild mit einem partnerschaftlichen Verhältnis zwischen Ärzt*innen und Patient*innen. Der Fokus liegt dabei auf der Aktivierung der Selbstheilungskräfte. Patient*innen werden nicht auf ihre Symptome reduziert, sondern sind aktiv an dem Heilungsprozess beteiligt. Achtsamkeit und Selbstfürsorge sind dabei zentrale Säulen, um Gesundheit zu bewahren und in Phasen der Krankheit die eigenen Ressourcen zu aktivieren.

Ganzheitlichkeit und Selbstbestimmung

In der Naturmedizin wird der Mensch als Ganzes berücksichtigt. Dies bedeutet, dass der Körper, die Psyche und die Lebensbedingungen in der Entstehung und Behandlung von Erkrankungen gleichermaßen einbezogen werden. Neben den individuellen Faktoren von Gesundheit und Krankheit wird auch das soziale Umfeld und die weltanschauliche Einstellung der Patient*innen erfragt.  Der menschliche Organismus wird somit als ein komplexes System interpretiert, das sich nicht auf einfache Ursache-Wirkung-Beziehungen herunterbrechen lässt, denn: Menschen sind mehr als komplexe Maschinen!

Mit dieser ganzheitlichen Sichtweise auf den Menschen geht ein spezielles Verständnis von Gesundheit und Krankheit einher: Gesundsein und Kranksein sind nicht zwei entgegen gesetzte Pole, sondern vielmehr Zustände, die zu einem dynamischen Prozess des Lebens dazugehören. Das Leben bewegt sich fließend zwischen diesen beiden Zuständen, wobei auch Zwischenbereiche wie beispielsweise Regenerationsprozesse wichtig sind.

Der Fokus in der Naturmedizin liegt nicht allein auf der Krankheit als Fehlfunktion des Körpers. Symptome werden als Reaktionen des Organismus verstanden, die es den Patient*innen ermöglichen mehr über ihre Krankheit zu erfahren und unter therapeutischer Begleitung die eigenen Ressourcen zu aktivieren und zu stärken. Die Naturmedizin baut zentral auf der Aktivierung der Selbstheilungskräfte auf, die durch verschiedene Maßnahmen unterstützt werden kann: Der menschliche Körper verfügt über selbstregulierende Fähigkeiten, die angeregt und verstärkt werden können, wie schon Hufeland und Kneipp betont haben.  

Als personenbezogener Ansatz fördert die Naturmedizin eine Begegnung zwischen Ärzt*innen und Patient*innen auf Augenhöhe: Die sprechende Medizin steht dabei im Vordergrund. Patient*innen wirken aktiv an dem Prozess der Gesundung mit und erfahren somit eine Form der Selbstwirksamkeit, die für einen Therapieerfolg entscheidend ist. Ärzt*innen entwickeln die Therapiepläne in Zusammenarbeit, wobei die Erwartungen und Prioritäten der Patient*innen ernst genommen werden.

Die fünf Säulen der klassischen Naturheilkunde: Aktivierung der Selbstheilungskräfte

Die klassische Naturheilkunde ist untrennbar mit Sebastian Kneipp verbunden, der ein Behandlungskonzept entwickelte, das noch heute in vielen Therapieeinrichtungen bedeutsam ist. Heilsame Reize durch Wasseranwendungen und Naturaufenthalte werden mit der Wiederherstellung eines seelischen Gleichgewichtszustandes kombiniert. Das ganzheitliche Denken in der Naturmedizin zeigt sich deutlich an der Kombination der verschiedenen Interventionen, die den ganzen Menschen in den Behandlungsprozess einbeziehen.

Die fünf Säulen der klassischen Naturheilkunde, die die Selbstheilungskräfte des Menschen auf seelischer und körperlicher Ebene anregen, umfassen folgende Bereiche:

  1. Hydrotherapie: Wasseranwendungen und Wickel lösen Temperaturreize aus, die heilsame Wirkung bei verschiedenen Erkrankungen haben.
  2. Bewegungstherapie: Tägliche Bewegung an der frischen Luft und moderate Sporteinheiten sind grundlegend für die Gesunderhaltung und tragen zur Regeneration bei verschiedenen Erkrankungen bei.
  3. Ernährungstherapie: Eine vollwertige Ernährung als Basis der körperlichen Gesundheit ist wesentlicher Bestandteil der klassischen Naturheilkunde.
  4. Phytotherapie: Die gesundheitsfördernden Eigenschaften der Heilpflanzen werden einerseits im Alltag eingesetzt, um die Gesundheit zu erhalten. Andererseits können verschiedene Zubereitungen aus Arzneipflanzen auch zur Selbstbehandlung bei Erkrankungen angewendet werden.
  5. Ordnungstherapie: Diese Therapie ist auf die Wiederherstellung des Gleichgewichts im Leben des Menschen ausgerichtet. Entscheidend hierfür sind sowohl die Berücksichtigung der ‚inneren Uhr‘, der sogenannten Chronobiologie, als auch die Erfüllung von psychischen Grundbedürfnissen, die ausschlaggebend für ein erfülltes Leben sind.

Die Wirksamkeit dieses Ansatzes der klassischen Naturheilkunde bei verschiedenen Erkrankungen ist in einer aktuellen systematischen Übersichtsarbeit nachgewiesen worden.

Tempel der Gesundheit: Selbstwirksamkeit und Gesunderhaltung

Die fünf Säulen der klassischen Naturheilkunde werden in der modernen Mind-Body-Medizin integriert, wobei Achtsamkeit und Selbstfürsorge im Fokus stehen. Zentral ist die Hinwendung zur Salutogenese, also die Entstehung und Erhaltung von Gesundheit.

Dieser gegenwärtige Behandlungsansatz berücksichtigt neben Maßnahmen aus der Naturheilkunde neue Erkenntnisse aus der Psychologie. Diese werden hinzugezogen, um Gesundheitsressourcen zu stärken. Die Kombination aus Naturheilkunde und Erkenntnissen aus der Psychologie führt dazu, dass Patient*innen aktiv ihren Heilungsprozess gestalten und somit ein Gefühl der Selbstwirksamkeit erfahren.  

Während Bewegung, Ernährung und Selbsthilfemaßnahmen aus der klassischen Naturheilkunde bekannt sind, ergänzen Entspannungsverfahren und Atemarbeit das neue Modell, das erfolgreich in der klinischen Praxis eingesetzt wird. Die Atmung als mittlere Säule und zentrale Gesundheitsressource ist mit den anderen vier Elementen der Gesunderhaltung verbunden.

Atemübungen sind dabei nicht nur für kranke Personen eine Ressource zur Regeneration. Als Möglichkeit der Stressregulation sind sie auch ein wichtiger Aspekt für Menschen, die ihre Gesundheit erhalten wollen. Bei Aufregung beispielsweise ist es hilfreich, dreimal tief durchzuatmen, wodurch eine sogenannte Entspannungsreaktion ausgelöst wird. Stressauslösenden Faktoren im Alltag kann durch eine Fokussierung auf die Atmung gelassener und achtsamer begegnet werden. Atemübungen sind eine wertvolle Ressource, die es ermöglicht, mit herausfordernden Situationen besser umzugehen.

Fazit

Durch das ganzheitliche Verständnis des Menschen in der Naturheilkunde können Gesundheit und Krankheit in einem zusammenhängenden Gefüge verstanden werden. Patient*innen werden nicht auf einzelne Fehlfunktionen des Organismus reduziert, sondern als denkende, fühlende und handelnde Menschen in der Therapie berücksichtigt. Die Stärkung der Patient*innen trägt maßgeblich sowohl zu einer neuen therapeutischen Beziehung als auch zum Behandlungserfolg bei. Der gegenwärtige Fokus der Gesunderhaltung auf der Grundlage von Achtsamkeit ist für ein modernes Gesundheitssystem, das den Bedürfnissen von Patient*innen gerecht wird, unerlässlich.