04. Januar 2024 - Die Versorgungsforschung ist eine wissenschaftliche Disziplin, die den medizinischen Alltag, die Organisation, die Steuerung und die Finanzierungsfragen der Kranken- und Gesundheitsversorgung untersucht. Wissenschaftler:innen erforschen medizinische Zusammenhänge, den Versorgungsalltag, die Kommunikation zwischen verschiedenen Gesundheitsakteuren und den Einsatz und Erfolg verschiedener Leistungen. Auf Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse sollen die Funktionsweisen des Gesundheitssystems optimiert werden.

Dr. med. Stefan Schmidt-Troschke ist geschäftsführender Vorstand des GESUNDHEIT AKTIV e.V. und arbeitet als niedergelassener Kinderarzt in Berlin. In seiner Praxis behandelt er die Kinder ganzheitlich. Im Interview erläutert er, wie die Versorgungsforschung funktioniert, wie sie – verbessert – funktionieren könnte und was Gesundheit für ihn bedeutet.

Herr Dr. Schmidt-Troschke, was ist das Besondere an Versorgungsforschung?

In der Medizin wird heute viel aus klinisch randomisierten Studien (RCTs, von engl. randomised controlled trials) abgeleitet bis hin zu den Empfehlungen in den S3-Leitlinien (was Leitlinien sind, erklärt recht verständlich das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen). Das Problem dabei ist, dass sich der Blick dabei meist nur auf eine bestimmte Stellgröße richtet, beispielsweise ob der Lipidsenker auch den Cholesterinspiegel und damit das Herzinfarkt- oder Schlaganfallrisiko senkt. Da kommen dann oft ganz tolle Ergebnisse heraus. Aber ob es den vielen Menschen, die diese Mittel über viele Jahre verschrieben bekommen, auch tatsächlich besser geht und ob sie am Ende länger leben, können nur Realdaten zeigen. Versorgungsforschung nutzt solche Realdaten und überprüft sozusagen die Wirkung einer Maßnahme im richtigen Leben. Letztlich geht es also darum: Was hat eigentlich die Bevölkerung davon, wenn ich Lipidsenker so flächendeckend verordne? Unter Alltagsbedingungen kann das Ergebnis dann ein ganz anderes sein als in einer konstruierten Studie.

Woran liegt das?

Die Compliance, also die Therapietreue, ist ein ganz wichtiger Faktor in der Versorgungsrealität. Wenn ich ein Medikament immer wieder „vergesse“, weil ich mich unwohl damit fühle, dann beeinflusst das natürlich den Effekt. Nebenwirkungen können außerdem die Lebensqualität derart beeinträchtigen, dass sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Maßnahme stellen kann. Einbußen in der Lebensqualität bzw. Nebenwirkungen werden aber nur selten mit dem Nutzen einer Maßnahme verrechnet. Außerdem sehen die erwähnten RCTs oft deshalb so gut aus, weil die Wissenschaft und die Medien – wie ich finde auf unzulässige Weise – meist nur die relative Risikoreduktion kommunizieren. Die gibt an, um welchen Anteil im Verhältnis das bestehende Risiko jeweils durch eine Intervention vermindert wird. Aber das versteht doch kaum jemand.

Darum erklären Sie es bitte…

Wenn zum Beispiel zwei Patient:innen von 1.000 nach einem Eingriff weniger sterben als die vorher gemessenen vier von 1.000, so wird das relative Risiko um 50 Prozent gemindert. Das macht meist Eindruck. Aber viel wichtiger ist die Aussage, ob am Ende des Tages zwei oder 200 Menschen von 1.000 von einer Maßnahme unter normalen Bedingungen mehr oder weniger profitieren. Und das ist es, was ich realistisch abbilden kann, wenn ich Realdaten habe.

Gibt es diese Realdaten überhaupt?

Das ist ja das große Dilemma: In Deutschland stehen diese Daten nur in geringem Maße zur Verfügung. Dann muss ich entweder Daten aus verschiedenen Quellen zusammenführen, etwa aus Registern, die es aber oft gar nicht gibt, oder mit Verordnungsdaten der Krankenkassen arbeiten. Verordnungsdaten lassen aber nur indirekte Schlussfolgerungen zu und sagen über die Compliance zum Beispiel nichts aus. Also muss Versorgungsforschung selbst Studien auflegen. Wir brauchen mehr davon, um herauszufinden, was den Menschen wirklich nützt.

Versorgungsforschung würde nach der Compliance fragen?

Genau. Idealerweise befragt sie die Menschen auch, wie es ihnen zum Beispiel nach einer Operation oder mit einer bestimmten Behandlung geht. Wir sprechen dann von „Patient Related Outcomes“ – kurz PROMs. Solche Befragungen sind ein wirklich wichtiges Instrument der Versorgungsforschung, werden bei uns aber noch viel zu selten durchgeführt.

Sind patientenzentrierte Befragungen nicht sehr subjektiv?

Es gibt verschiedene Methoden, wie man die Lebensqualität oder Zufriedenheit erfassen kann. In Großbritannien macht man das ausgiebig, indem man mit sogenannten „quality adjusted life year“ (QALY) arbeitet. Ein QALY ist eine Kennzahl für die Bewertung eines Lebensjahres in Relation zur Gesundheit. Bestimmte Therapien werden nur erstattet, wenn vorher der QALY, also der Nutzwert für ein Leben, untersucht wurde. Allerdings gebe ich Ihnen Recht: Der Begriff Lebensqualität bedeutet für jeden etwas anderes, ebenso wie der Begriff Gesundheit. Ich glaube, man bräuchte eine viel dynamischere Gesundheitsdefinition als die der WHO, wonach Gesundheit ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens ist und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.

Wie würde Ihre Definition von Gesundheit aussehen?

Für mich schließt Gesundheit zusätzlich mit ein, dass ich optimistisch in die Zukunft schauen kann, dass ich einen Sinn im Leben habe. Interessant wäre auch einmal zu fragen: Wie hat der Mensch bisher gelebt, was hat dazu beigetragen, dass er gesund alt geworden ist oder mit 65 einen Herzinfarkt bekommen hat? Unsere Medizin interessiert das ja erstaunlicherweise wenig. Dabei könnte man so viel aus einem „Patient Reported Lifestyle“ lernen. Dahingehend müsste man meiner Ansicht nach auch die PROMs weiterentwickeln, dass man fragt, was brauchen die Menschen eigentlich, um zu ihrer individuellen Gesundheit zu kommen? Das wäre dann eine wirklich gesundheitsorientierte Versorgungsforschung.

ham

Studie der Bertelsmann Stiftung zum Thema Patient-Reported Outcomes: „SPOTLIGHT GESUNDHEIT: Patient-Reported Outcomes - Mit patientenberichteten Daten zu einer besseren Versorgungsqualität.“

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