24. Juni 2022 - Unser Redaktionsteam hat sich nach dem Angriffskrieg auf die Ukraine viele Gedanken um die Themen Trauma und Helfen gemacht. Eine Person, die unter anderem geflüchteten Kindern hilft, ist Barbara Schiller. Sie ist geschäftsführender Vorstand und Gründungsmitglied von stART international e.V. Ihr beruflicher Hauptschwerpunkt liegt seit 2008 auf der künstlerisch-pädagogisch-traumatherapeutischen Nothilfe nach Kriegen, Naturkatastrophen, Pandemien und Flucht. Ebenso kümmert sie sich um die Inklusionsarbeit mit Menschen mit und ohne Fluchthintergrund in Deutschland und Europa und die internationale Entwicklungszusammenarbeit durch waldorfpädagogisch inspirierte Erzieher:innen und Lehrer:innenaus- und -weiterbildung. Wir haben ihr unsere "3 Fragen an..." gestellt:

 

1. Was genau ist Notfallpädagogik? 

"Notfallpädagogik" ist die Übersetzung des Wortes "Emergency Education". Dieses bezeichnet das ganze Arbeitsfeld, das sich mit der Thematik beschäftigt, wie Kinder und Jugendlichen in "Emergency Situations" - also in besonderen Notsituationen wie Kriegs- oder Katastrophensituationen - trotz aller Schwierigkeiten kindgerecht und altersgemäß aufwachsen, sich entwickeln und an Bildung teilhaben können. Ich selber finde, dass Emergency Education kein wirklich guter Begriff ist. EduCare beziehungsweise pädagogisch-therapeutische Nothilfe - also ein Begriff, der sich aus Education (Bildung, Erziehung) und Care (Pflege, Sorge) zusammensetzt - ist für mein Verständnis viel passender. Denn jeder, der sich in dieses Arbeitsfeld vorwagt, wird feststellen, dass es ein interdisziplinäres Arbeitsfeld ist, in dem es im Umgang mit Kindern sowohl eines pädagogischen Zugangs als auch eines therapeutischen Verständnisses bedarf. Der Hintergrund dafür ist, dass jede Situation, die einen Menschen - ob Kind oder Erwachsenen - in besonders große Not bringt (ein sogenanntes traumatisches Erlebnis), sich immer auch auf die physisch-seelische Verfasstheit dieses Menschen auswirkt. Und das in gewisser Weise ganz unabhängig von der persönlichen Konstitution des Einzelnen. Das sollte deshalb idealerweise bei allem, was pädagogisch unternommen wird, berücksichtigt werden, wenn es um die Unterstützung von Kindern geht, die Kriege, Naturkatastrophen, Flucht oder auch eine schwere Pandemie miterlebt haben.   

 

2. Was bedeutet das konkret für die aktuelle Situation in der Ukraine?

Die Situation in der Ukraine ist extrem komplex. Vielleicht nehmen wir nur einmal die Frage, was unter pädagogisch-therapeutischer Nothilfeperspektive im Hinblick auf die Kinder aus der Ukraine, die bei uns ankommen, sinnvoll ist.

Das erste ist, dass sie Geflüchtete sind. Das bedeutet, dass sie sich nicht freiwillig auf den Weg an einen anderen Ort gemacht haben. Ein solcher erzwungener Aufbruch ins Ungewisse, in die Unsicherheit, ins Unbekannte ist schon per se eine sehr leidvolle und kräftezehrende Erfahrung. Dazu kommt, dass die Kinder möglicherweise vor oder während der Flucht sehr Schlimmes selbst erlebt haben oder Zeuge davon wurden. Die meisten mussten zusätzlich sehr nahestehende, geliebte Menschen wie den Vater, Geschwister oder Großeltern in der Ukraine - und damit in Lebensgefahr - zurücklassen. Ihre Begleitpersonen, oftmals die Mütter, sind ebenfalls von den Erfahrungen gezeichnet. Sie sind deshalb in der Regel nicht so belastbar wie vor der Kriegssituation. Das alles ist verunsichernd für das Kind. Und schließlich dauert der Krieg an, ohne dass ein Ende absehbar ist. Das ist eine schrecklich, von Angst, Schuldgefühlen und Heimweh geprägte Lebenssituation, die noch verschlimmert wird durch die ständige Verbundenheit mit den fürchterlichsten Ereignissen vor Ort, die medial miterlebt werden.

In dieser Konstellation von unterschiedlichsten leidvollen Erfahrungen und Erlebnissen ist es nicht hilfreich, anzunehmen, dass diese Kinder ja jetzt in Sicherheit sind und deshalb bei uns ein relativ normales Leben führen können. Manchem Kind wird das vielleicht sogar gelingen. Viele aber brauchen Unterstützung dabei, in ein inneres Gleichgewicht zurückzufinden und an ihren eigenen Entwicklungsfaden wieder anbinden zu können. Dies gilt natürlich gleichermaßen für die geflüchteten Erwachsenen.

 

3. Und wie kann geholfen werden? Welche (Therapie)- Methoden kommen häufig zum Einsatz?

Zu dieser Frage haben meine KollegInnen von stART international und ich das Buch "Kinder stärken - Zukunft gestalten: Pädagogisch-therapeutisches Lehr- und Praxisbuch zu Trauma, Widerstandskraft, Kunst und sozialer Beweglichkeit"geschrieben, das Einblick gibt, in die Grundfragen, die sich stellen und Unterstützungsansätze aufzeigt. Auch auf unserem YouTube-Kanal kann geschaut werden, was wir bei stART machen. Wichtig ist aus meiner Sicht aber vor allem, dass Menschen, die unterstützen möchten, sich der Thematik wirklich annehmen und dann eigene Wege suchen, die passend für sie selber, für ihr jeweiliges Gegenüber und für die spezifische Situation sind.