17. Oktober 2023 - Ob im ambulanten Bereich, im Krankenhaus oder im Pflegeheim – in der Pflege knirscht es an allen Ecken und Enden. Immer mehr gut ausgebildete Pflegekräfte werfen das Handtuch oder reduzieren ihre Stunden, weil sie schlicht nicht mehr können oder wollen. Die Personalflucht gilt in der Branche als noch schlimmer als der fehlende Nachwuchs.

Personal- und Zeitmangel sind offensichtlich und waren medial zumindest in der Corona-Krise ein großes Thema. Doch seit dem Applaus von den Balkonen ist wenig bis nichts passiert, was die angespannte Situation in der Pflege verbessert hätte.

Große Hoffnung hatten Pflegeverbände auf die 2022 verabschiedete Pflegepersonalregelung 2.0 gesetzt. Dieses Personalbemessungsinstrument für Krankenhäuser sollte endlich die tatsächlichen Leistungen der Pflege erfassen, was dann Grundlage für die Personalausstattung und Finanzierung sein soll. Doch inzwischen ist beim Deutschen Pflegerat (DPR) Ernüchterung eingetreten. Denn bei der wissenschaftlichen Weiterentwicklung dieses wichtigen Instruments wurden die Pflegeverbände nicht eingebunden. „Das ist nicht tolerierbar und wieder einmal ein Paradebeispiel dafür, dass über die beruflich Pflegenden, aber nicht mit ihnen geredet und beschlossen wird“, kommentiert DPR-Vizepräsidentin Annemarie Fajardo im Newsletter 6/2023 des Pflegerats das Ärgernis.

Der Frust in der Pflege hat viele Gründe

Hildegard Vornweg-Hiemenz, die als gelernte Pflegemanagerin seit über 15 Jahren den Verband für anthroposophische Pflege (VfAP) im Deutschen Pflegerat vertritt, ist ebenfalls empört. Zwar werde der Deutsche Pflegerat inzwischen politisch mehr gehört als früher, aber eben bei wichtigen Fragen immer wieder übergangen. Ernüchternd sei das, aber schlimmer noch sei das, was die DPR-Präsidentin Christine Vogler neulich festgestellt habe: Die garantierte Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die auf medizinische und pflegerische Hilfe angewiesen sind, sei nicht mehr sicher. „Das empfinde ich in einem so reichen Land nicht verantwortbar“, kommentiert Vornweg-Hiemenz den beunruhigenden Befund. Dass sie selbst nach fast 50 Berufsjahren weiterhin für bessere Bedingungen in der Pflege kämpft, sei ihrer Liebe zu ihrem Beruf geschuldet: „Wir glauben einfach an die Pflege.“

Doch der Frust im Pflegealltag sei groß. Für echte Pflegetherapie und Gespräche mit den Patient:innen seien einfach keine Zeit und keine Ressourcen da; die Kolleginnen und Kollegen bis an ihre Grenzen belastet und erschöpft. Das sei ein strukturelles Problem, das aus ihrer Sicht „nur der Gesetzgeber lösen kann“.

Wege aus dem Pflege-Dilemma

Auch im Hinblick auf die pflegerischen Tätigkeiten sieht die Pflegeexpertin den Gesetzgeber in der Pflicht. „Die Heilkundeübertragung auf Pflegefachpersonen muss neu geregelt werden, damit sie eigenverantwortlich ihre differenzierten Kompetenzen einsetzen können. Außerdem bedarf es tiefgreifender Strukturveränderungen wie sektorenübergreifende Patientenversorgung sowie eine Verbesserung der Karrierechancen“, fordert Vornweg-Hiemenz. Im Grunde geht es also um mehr Gestaltungsmöglichkeiten, mehr Verantwortung und mehr Kompetenzen für die Pflege. „Ich denke, damit kann man den Beruf deutlich attraktiver machen.“

Einen weiteren Vorschlag macht Thomas Meißner vom AnbieterVerband qualitätsorientierter Gesundheitspflegeeinrichtungen (AVG), ebenfalls Mitglied im Deutschen Pflegerat. Meißner leitet in Berlin einen häuslichen Krankenpflegedienst und schlägt die Schaffung von „Anreizsystemen“ vor, insbesondere finanzieller Art: Wochenend- und Nachtdienstzuschläge von 300 Prozent, steuerliche Anreize oder eine Bevorzugung bei der Wohnungssuche zum Beispiel. „Ich denke die Gesellschaft muss beantworten, wie viel ihr Versorgungssicherheit wert ist“, sagt Meißner. Für ihn sei sie jedenfalls „so gleichberechtigt wie die Sicherheitsarchitektur in Europa“.

ham

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