Führt der Wettbewerb unter Krankenkassen und die Einteilung von Versicherten in Risikokategorien dazu, dass Präventionsangebote systematisch vernachlässigt werden?

 

Versicherte unter Risikostratifizierung

Es besteht in Deutschland seit 1996 Versicherungsfreiheit. Das bedeutet, dass alle Bürger*innen ihre Krankenkasse selbst wählen können. Laut GKV-Spitzenverband führe das zu einer finanziellen Ungleichbehandlung zwischen den einzelnen gesetzlichen Krankenkassen: Einige Kassen hätten überdurchschnittlich viele Mitglieder mit chronischen Erkrankungen in der Leistungserbringung, wodurch enorme Folgekosten entstünden. Auf dieser Grundlage wurde der ‚Risikostrukturausgleich‘ eingeführt. Das heißt, jede Krankenkasse erhält für ihre Versicherten eine Grundpauschale mit bestimmten Zuschlägen, die auf der Basis von Risikokategorien – Alter, Wohnort, Geschlecht und Krankheitslast (Morbidität) – berechnet werden

 

Morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich

Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich wurde im Jahre 2009 als Erweiterung des sogenannten ‚Risikostrukturausgleichs‘ für die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) eingeführt. Das bedeutet, dass die Krankheitslast nun direkt in die Zuteilung der Gelder aus dem Gesundheitsfond für die Gesetzlichen Krankenkassen einfließt. Auf Grundlage dieser Reform wurden 80 Krankheiten berücksichtigt, die für die Kassen hohe Versorgungsausgaben zur Folge haben. Neben diversen chronischen Erkrankungen, wie Hypertonie und Diabetes mellitus, sind auch psychische Erkrankungen, u. a. Depressionen und Persönlichkeitsstörungen, gelistet.Eine weitreichende Reform dieser Risikostratifizierung von Versicherten wurde im Jahre 2020 beschlossen: Statt des Katalogs von 80 Krankheiten, werden nun über 300 Diagnosen gelistet, die in den Ausgleich der Folgekosten für Krankheitslast aus dem Gesundheitsfonds einfließen.

 

Anreize für Prävention mangelhaft

Während die Reformen des (morbiditätsorientierten) Risikostrukturausgleichs lediglich auf die zu erwartenden Kosten bei verschiedenen Krankheiten fokussiert sind, spielen Präventionsangebote in der Verteilung der Gelder aus dem Gesundheitsfonds kaum eine Rolle. Die Dachverbände der Innungskassen (IKK) und der Betriebskrankenkassen (BKK) kritisierten 2016, dass durch den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich falsche Anreize in der Patientenversorgung gesetzt werden. Krankenkassen, die eine Fülle von Präventionsangeboten bereitstellen, so dass ihre Mitglieder gesund blieben, werden durch die Reformen der Risikostratifizierung und der damit einhergehenden Umverteilung der Gelder aus dem Gesundheitsfond deutlich benachteiligt. Ab 2014 kippte zudem der Deckungsbeitrag für Präventionsangebote, sodass Versicherte, die gesundheitsbewusst sind, finanzielle Einbußen für die Krankenkassen bedeuten: „Schließlich bekommen Kassen für ‚gesündere‘ Versicherte weniger Fonds-Zuweisungen.“ Die Mittelverteilung aus dem Gesundheitsfonds an die Krankenkassen ist in diesem Lichte zumindest als fragwürdig einzustufen, denn ihnen liegt ein falsches Anreizsystem zugrunde: Nicht die Gesunderhaltung und Selbstwirksamkeit der Versicherten stehen im Vordergrund, sondern die Krankenkassen profitieren in finanzieller Hinsicht langfristig von chronisch Erkrankten.