05. November 2023 - „Der Mensch kann erkranken und gesunden. Krankheitsbezogene Therapie muss ergänzt werden durch die Unterstützung der gesundenden Kräfte.“ Wer würde das nicht unterschreiben, was Rudolf Steiner vor über 100 Jahren sagte? Steiner ist Begründer der Anthroposophie, was übersetzt so viel bedeutet wie die „Weisheit vom Menschen“. Herzstück dieser spirituellen Weltanschauung ist – neben pädagogischen (Waldorfschulen), architektonischen und landwirtschaftlichen Elementen – die anthroposophische Medizin.

Sechs anthroposophische Kliniken gibt es heute in Deutschland, die moderne Medizin mit anthroposophischer Medizin verbinden. Leitgedanke ist, den Blick nicht nur auf die Krankheit und die Symptome zu richten, sondern die physischen und psychischen Ressourcen in den mitunter sehr kranken Patient:innen zu sehen und diese als Leib-Seele-Geistwesen auf ihrem Entwicklungsweg zu begleiten und auf allen drei Ebenen zu unterstützen. So sollen die Selbstheilungskräfte gestärkt werden.

Duftende Auflagen und Zuwendung gibt es on top

Deshalb gibt es in anthroposophischen Kliniken auch ein bisschen mehr als in anderen Krankenhäusern. Ein Wickel mit ätherischen Ölen zum Beispiel, eine Rhythmische Einreibung, eine belebende Waschung oder ein entspannendes Bad. Hinzu kommen Bewegungs- und Kunsttherapien sowie naturheilkundliche Medikamente. Und natürlich die persönliche Zuwendung, die man beim Genesungsprozess nicht unterschätzen darf.

Maria Jung bildet im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin Pflegekräfte in anthroposophischer Pflege aus. Außerdem gibt sie Kurse für Patient:innen und Angehörige – und das, obwohl sie bereits pensioniert ist. Die gelernte Krankenschwester tut es aus Leidenschaft, denn „anthroposophische Pflege ist nicht nur etwas Schönes, sondern ist mit ihren therapeutischen Anwendungen relevant am Heilungsprozess beteiligt“, sagt sie. „Wenn man zum Beispiel einem Patienten eine Rhythmische Einreibung gibt, dann beruhigt das nicht nur den Patienten, sondern auch den, der es tut“, erzählt sie. „Man tut sich also auch selbst etwas Gutes.“

Auch der Duft nach ätherischen Ölen und natürlichen Essenzen, fasziniert sie nach über 30 Dienstjahren immer noch. „Allein das schafft schon eine ganz andere Atmosphäre als dieser typische Krankenhausgeruch.“

Klar ist: Anthroposophische Pflege kostet zusätzliche Zeit. Für das zusätzliche Personal sowie für naturheilkundliche Medikamente bekommen die sechs Anthroposophischen Kliniken Zusatzentgelte von den Krankenkassen. Bedingung ist, dass mindestens ein Drittel des Pflegepersonals eine anthroposophische Ausbildung hat und dass Patient:innen während ihres Klinikaufenthalts 30 anthroposophische Therapieeinheiten bekommt.

Die beruhigende Ölauflage mit Lavendel am Abend oder die Waschung mit einer belebenden Rosmarin-Essenz am Morgen kann ein Segen sein. Während das eine einen guten Schlaf fördert, sorgt das andere dafür, munter zu werden. „Ein geregelter Tag-Nacht-Rhythmus ist ganz wichtig für die Genesung“, weiß Ausbilderin Maria Jung, „und das können wir aktiv mit äußeren Anwendungen unterstützen.“

Eine Frage des Bewusstseins

Maria Jung findet auch nicht, dass anthroposophische Pflege wirklich so zeitaufwändig sein muss. Einmal, weil die Pflegerinnen und Pfleger das übliche Waschen gleich mit einer Therapie verbinden können. Außerdem klingeln, ihrer Erfahrung nach, die Patient:innen seltener, wenn sie pflegerische Zuwendung samt einer Therapieeinheit bekommen haben. „Anthroposophische Pflege ist nicht nur eine Zeitfrage, sondern auch eine Frage des Bewusstseins“, betont sie.

Die Geisteshaltung spiegelt sich auch im Umgang mit dem Tod wider. Statt die Verstorbenen gleich ins Kühlhaus zu bringen, wie selbst in vielen konfessionellen Häusern üblich, werden sie in Havelhöhe in einen speziellen Raum gebracht. Vorher werden sie noch gewaschen, angekleidet und bekommen eine Blume in die Hand. Drei Tage haben Angehörige und Klinikpersonal dann Zeit, sich in Würde von dem Menschen zu verabschieden – an dem Ort, an dem er diese Welt verlassen hat.

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(c) Foto via Unsplash: Toa Heftiba