Für eine menschliche Medizin

In den vergangenen 15 Jahren hat das Gesundheitswesen vielfältige Veränderungen durchlaufen und ist heute weitgehend zu einer Gesundheitsökonomie geworden, die nach Marktgesetzen funktioniert. Das bedeutet, dass sich Krankenhäuser, aber auch Arztpraxen wie Unternehmen verhalten (müssen), die für bestimmte Leistungen bezahlt werden. In den Krankenhäusern wurde die Finanzierung 2004 auf das sogenannte Fallpauschalensystem‘ umgestellt. Waren die Behandlungskosten zuvor vor allem von der Dauer des Krankenhausaufenthalts der Patient:innen abhängig, werden seither einheitliche, vom Gesetzgeber gedeckelte Honorare für Behandlungen auf der Basis definierter Diagnosen festgelegt, sogenannte DRGs (Diagnosis Related Groups).  

Arztpraxen und Krankenhäuser stehen seither unter einem hohen wirtschaftlichen Druck. Sie müssen möglichst viele Leistungen erbringen und effizient sein, damit sie wirtschaftlich überleben können. So müssen Arztpraxen einerseits so viele Patient:innen wie möglich behandeln, andererseits darauf achten, dass pro Patient:in nur so viele Leistungen erbracht werden, wie in der Deckelung vorgesehen. Eine Reihe von Krankenhäusern wurde privatisiert und steht im Wettbewerb zu kommunalen und gemeinnützigen, z. B. kirchlichen Einrichtungen. Auf diese Weise wird die Rendite zu einer wichtigen Bezugsgröße, die auch ärztliches Handeln beeinflusst: Wirtschaftliche Erwägungen spielen eine Rolle bei der Behandlung der Patient:innen, die Anreize sind falsch gesetzt: Hochdotierte Apparatemedizin, aufwändige Diagnostik und Operationen spülen Geld in die klammen Kassen der Krankenhäuser, wohingegen zeitintensivere Pflegeleistungen, Gespräche zwischen Ärzt:innen und Patient:innen sowie menschliche Zuwendung keinen Gewinn versprechen. Das führt zum Beispiel immer wieder zu unnötigen Operationen oder überflüssiger Diagnostik, um die getätigten Investitionen in Geräte zu amortisieren oder zu verfrühten Entlassungen, um die veranschlagten Liegezeiten nicht zu überschreiten.1 In vielen Häusern wurde zudem am Einsatz der Pflege gespart, was sich heute bitter rächt.  

Die Medizin ist an vielen Stellen zur Reparaturwerkstatt verkommen, ist unmenschlich geworden. Krankenhäuser erinnern oftmals an Gesundheitsfabriken mit riesigen Abteilungen, in denen die Prozesse wie am Fließband durchgetaktet sind. Ärzt:innen, Therapeut:innen, Pflegende und Patient:innen leiden gleichermaßen unter diesen Missständen, vielfach regt sich mittlerweile Widerstand. In einem dringenden Appell in der Zeitschrift Stern 2019 sprachen sich Ärzt:innen und medizinische Gesellschaften für eine grundlegende Reform der Krankenhäuser in Deutschland aus.2 Es sei fahrlässig, die Kliniken und damit auch die Patient:innen den Gesetzen des freien Marktes zu überlassen. Obwohl einzelne Politiker:innen mittlerweile ebenfalls für eine Reform der Krankenhausfinanzierung plädieren, sind wirkliche Veränderungen nicht in Sicht.  

Als belastend erleben viele Patient:innen vor allem die mangelnde Zeit für ausführliche Gespräche, in denen sie Ärzt:innen und Therapeut:innen als ganze Person und nicht nur als Symptomträger gegenübertreten können. Durchschnittlich 8 Minuten verbringen Patient:innen im ‘Sprechzimmer’ ihrer Ärzte, nach durchschnittlich 19 Sekunden werden sie zum ersten Mal unterbrochen. Trotz vielfacher Kritik, wird die ‘Sprechende Medizin’ als Leistung, insbesondere im Vergleich zu apparativer Diagnostik, weiterhin sehr schlecht vergütet. Das gilt sowohl für den Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) als auch für die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ).

Das Gesundheitssystem neu denken

„Wo das Primat von Kapitalinteressen herrscht, fehlt es systembedingt an der ärztlichen Fürsorge,“ bringt es Klaus Holetschek, MdL und Präsident des Kneipp-Bundes auf den Punkt. Gäbe es nicht die hohe innere Motivation vieler Ärzt:innen, Therapeut:innen und Pflegenden, sähe es in der ambulanten und stationären Versorgung sowie in der Pflege in Deutschland noch weitaus trüber aus als es derzeit der Fall ist. Die ökonomisierte Medizin bürdet ihre Verwerfungen und Defizite den Patient:innen, Ärzt:innen und Pflegenden auf, die unter dieser Last zunehmend zusammenbrechen – oder auf die Barrikaden gehen. Es ist deshalb an der Zeit, unser Gesundheitssystem völlig neu zu gestalten und es konsequent vom Menschen her zu denken. Ganzheitliche, auf die Stärkung der eigenen Gesundheitspotenziale setzende Verfahren der Naturmedizin weisen den Weg aus der Sackgasse, in die uns eine ökonomisierte Medizin über die Jahre hineinmanövriert hat. 


Ausführlicher nachzulesen in dem Essay von Dr. Christoph Rehm: Gesundheitswesen – Quo vadis? In: Medizin Individuell. Klinikausgabe Heft 58/59. Winter 2015/16. S. 10-17