Markt und Ethik in der Medizin
1.900.000 Euro kostet eine Infusion mit Zolgensma, einer Gentherapie gegen spinale Muskelatrophie (SMA), die der Pharmakonzern Novartis jetzt auch auf den deutschen Markt bringen könnte. Die Erbkrankheit SMA löst unter anderem Muskelschwund aus und führt ohne Behandlung oft vor Erreichen des zweiten Lebensjahres zum Tod. Betroffene dürften also äußerst dankbar sein, wenn es eine Therapie gibt, die wirksamer als bisherige Optionen ist. Der Preis einer Behandlung wird vom Spitzenverband der Krankenkassen und dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), dem höchsten Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, mit dem Hersteller ausgehandelt, allerdings erst ein Jahr nach Markteinführung – vorher gilt der Listenpreis des Anbieters. Im Falle Zolgensma spiegeln die 1,9 Mio. Euro pro Patient, die von der Solidargemeinschaft finanziert werden müssten, nicht etwa die Herstellungs- und Entwicklungskosten des Medikaments, sondern dessen „Marktwert“ wider.
Pharmaunternehmen wie Novartis können sich also aufgrund der Rahmenbedingungen unseres Gesundheitssystems unmäßig an notleidenden Menschen bereichern, und wir alle müssen dafür zahlen. Der Leiter des Freiburger Instituts für Ethik der Medizin, Giovanni Maio, spricht sich gegen eine solche Preisgestaltung allein nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage aus: „Dann entstehen völlig überhöhte Preise wie bei Zolgensma oder vielen anderen Medikamenten, etwa in der Krebsbehandlung. Das ist ethisch nicht zu rechtfertigen.“ Weil’s hilft! will kein Gesundheitssystem, in dem die Rendite der oberste Maßstab des Handelns ist! Exorbitant überhöhte Medikamentenpreise, der Pflegenotstand oder die Schließung von Kliniken im ländlichen Raum sind das Ergebnis politischer Entscheidungen, die nicht in erster Linie die Interessen der Patient:innen im Blick haben. Das muss künftig anders werden!
Naturmedizin ist effektiv und spart Kosten
Und hier kommt die Naturmedizin ins Spiel: Pflanzenheilkunde, Kneipp’sche Verfahren, Anthroposophische Medizin, Osteopathie, Homöopathie und weitere bewährte komplementäre Verfahren sind vielfach wirksame und sichere Alternativen oder Ergänzungen zu schulmedizinischen Therapien. Dennoch werden sie kaum beforscht, an Universitäten allenfalls in marginalem Umfang gelehrt und von den Kassen nicht als Regelleistung erstattet. Dabei sind diese Behandlungsformen effektiv und sparen im Vergleich zu konventionellen Verfahren Kosten! Eine vergleichende ökonomische Evaluation aus den Niederlanden, die die Daten von ca. 1,5 Mio. Versicherten über sechs Jahre auswertete, hat gezeigt, dass naturmedizinische Orientierung in der Grundversorgung mindestens so effektiv ist wie konventionelle und weniger Kosten verursacht. Die Sterblichkeit von Patient:innen, die primär naturmedizinisch behandelt werden, ist deutlich niedriger als die von ausschließlich konventionell Behandelten, und im Schnitt verursachen diese auch signifikant weniger Ausgaben für die Krankenversicherung. Andere Kosteneffizienzstudien zu verschiedenen naturmedizinischen Verfahren kommen zu ähnlichen Ergebnissen.
Die existierenden wissenschaftlichen Befunde legen also den Schluss nahe, dass unser Gesundheitssystem durch mehr Naturmedizin sowohl effektiver als auch günstiger werden würde. Die Patient:innen und das Gros der Bevölkerung würden von Weichenstellungen in Richtung Integrative Medizin profitieren. Da naturmedizinische Verfahren häufig auf Selbstfürsorge, Prävention und Stimulation der Selbstheilungskräfte mit vergleichsweise unschädlichen Interventionen statt auf teure Arzneimittel oder Operationen setzen, sind sie für Pharmaunternehmen wirtschaftlich uninteressant. Der u. a. für das Handelsblatt tätige Wirtschaftsjournalist Norbert Häring etwa fragt sich in Bezug auf die Homöopathie, die er im Übrigen selbst höchst kritisch betrachtet: „Warum wird über so etwas so hitzig diskutiert, und nicht viel mehr darüber, wie man mit Krebsmedikamenten umgeht, die hunderttausende Euro pro Patient und Jahr kosten, oder wie man dafür sorgen kann, dass die Pharmaindustrie sich stärker auf Mittel konzentriert, die einen echten Mehrwert bringen?“ Und er resümiert: „In dem Maße wie die Kampagne gegen die Homöopathie Erfolg hat, wird unser Gesundheitssystem teurer, aber nicht wirksamer. Nur die Pharmabranche verdient mehr.“
Für ein demokratisches Gesundheitswesen
Gesundheit ist nicht einfach durch standardisierte und technische Interventionen geradlinig herbeizuführen. Gesundheit entsteht in jedem von uns individuell und durch jeden selbst – und zwar innerhalb der Kultur und Gesellschaft, die wir mitgestalten. Deshalb braucht es Offenheit und eine Vielfalt der Methoden und Therapien, wie sie im Rahmen unterschiedlicher Ansätze innerhalb der Integrativen Medizin zugänglich sind: Konventionelle und naturmedizinische Verfahren werden so sinnvoll miteinander verbunden. Der Weg zu einer Integrativen Medizin, die klar und fest in unserem Gesundheitssystem verankert ist, ist zugleich der Weg zu einem methodisch offenen und demokratisch legitimierten Gesundheitssystem, das sich an den Bedürfnissen der Patient:innen und Bürger:innen orientiert und an dessen Ausgestaltung die Bürger:innen aktiv beteiligt sind. Bürger:innen und Patient:innen sind Experten ihrer eigenen Gesundheit. Daher müssen sie die Rahmenbedingungen, unter denen sie medizinisch behandelt werden, mitgestalten können.
Eine solches Erleben von Selbstwirksamkeit stärkt die Gesundheit der Menschen und sollte regional und überregional zur Selbstverständlichkeit werden. Die derzeit noch bestehenden tiefen Gräben zwischen der Schulmedizin und Naturmedizin könnten so überwunden werden – zum Wohle der Patient:innen.