09. November 2021 - Nicht nur das Alter, die körperliche Konstitution oder die Psyche haben Einfluss darauf, wie und woran man erkrankt, sondern auch das Geschlecht. Dennoch wurden Frauen und Männer jahrzehntelang von der modernen Medizin gleichbehandelt. Meistens zum Nachteil der Frauen, denn in der Vergangenheit wurden bei Impf- und Medikamentenstudien meistens Männer als Probanden eingesetzt. Die Mittel und deren Dosierung wurden vor den Zulassungen fast ausschließlich an Männern getestet.  

Das hatte vor allem praktische Gründe. Es ist schlichtweg komplizierter, Frauen in diese wissenschaftlichen Untersuchungen einzubinden. Die Gründe liegen vor allem in den Hormonen, die sich nicht nur bei jungen und älteren Frauen durch die Wechseljahre unterscheiden, sondern auch durch den Wechsel innerhalb des Zyklus, die Einnahme von Verhütungsmitteln oder Schwangerschaften beeinflusst werden. Forschende befürchteten, dass dadurch Testergebnisse verfälscht werden könnten.  

Viel zu hohe Dosen für Frauen

Die Untersuchungen von Impfstoffen und Medikamenten an männlichen Personen hatte zur Folge, dass Frauen Medikamente in viel zu hohen Dosen verschrieben bekamen und einnahmen – und damit ihre bereits angegriffene Gesundheit zusätzlich aufs Spiel setzten. Auch Nebenwirkungen zeigten sich bei Frauen anders als bei Männern. Ein Beispiel für dafür ist, Zolpidem, ein Wirkstoff, der zu den häufig verordneten Schlafmitteln gehört.  

Die übliche Dosierung für Erwachsene ohne Vorerkrankungen lag bei 10 Milligramm. Man fand bei einer Untersuchung der Arzneimittelzulassungsbehörde der USA jedoch heraus, dass Frauen das Präparat wesentlich langsamer abbauten als Männer. So dass sich bei 15 Prozent der Probandinnen auch nach acht Stunden noch Werte des Schlafmittels nachweisen ließen, die deren Reaktionsvermögen noch deutlich beeinflussten. Daraufhin wurde die zugelassene Dosis für Frauen im Jahr 2013 auf die Hälfte gesenkt. 

Unterschiedliche Wirkungen 

Das Beispiel verdeutlicht, dass Medikamente bei Frauen und Männern unterschiedlich wirken können. Das ist im Wesentlichen auf die Geschlechtschromosomen XX und XY zurückzuführen, denn sie bestimmen maßgeblich die Arbeit des Herz-Kreislauf-Systems, des Stoffwechsels und der Verdauung, des Immunsystems und der Zusammensetzung des Körpers. Stoffwechsel, Verdauung und Körperzusammensetzung wiederum beeinflussen vor allem die sogenannte Pharmakokinetik. Damit wird die Gesamtheit aller Prozesse bezeichnet, denen ein Arzneistoff im Körper unterliegt. Die Aufnahme des Arzneistoffes, auch als Resorption bekannt, die Verteilung im Körper (Distribution), der biochemische Um- und Abbau (Metabolisierung) sowie die Ausscheidung (Exkretion) werden in diesem Teilbereich der Pharmakologie betrachtet und untersucht. Begründet wurde der Bereich allerdings von einem Kinderarzt.  

Heute ist klar: Geschlechterunterschiede müssen bei der Dosierung von Medikamenten berücksichtigt werden. So braucht beispielsweise eine Tablette für den Weg durch Magen und Darm einer Frau circa doppelt so lange wie bei einem Mann. Auch der Abbau von Wirkstoffen in der Leber dauert bei den meisten Frauen um einiges länger. Doch es gibt diesbezüglich noch immer viele blinde Flecke, die in der Diskussion oft als “Gender-Data-Gap" bezeichnet werden. 

Auch wenn mit der die Akzeptanz der Gendermedizin auch der Anteil an Probandinnen seit den 1990er Jahren gestiegen ist, kann es nicht darum gehen, in allen Studien ein ausgewogenes 50:50-Verhältnis an Frauen und Männern zu gewinnen. Es muss in Zukunft vielmehr darum gehen, das Verhältnis an der tatsächlichen Geschlechterverteilung der Krankheiten anzupassen. Bestimmte Diagnosen werden geschlechtsspezifisch besonders häufig gestellt. Frauen leiden beispielsweise überproportional häufig an Kniegelenksarthrose, an Autoimmunerkrankungen oder Schilddrüsenproblemen. Nach den Wechseljahren kommen aber auch Herz-Kreislauf-Probleme hinzu, die sonst vor allem Männer treffen. Bei der Erforschung von Krankheiten wie beispielsweise Brust- oder Prostatakrebs wäre eine 50:50 Rekrutierung bei den Probanden einfach sinnlos.