08. Januar 2024 - Randomisierte, kontrollierte, klinische Studien (sogenannte RCTs, von engl. randomised controlled trials) spielen eine große Rolle in der Medizin. Für die Zulassung neuer Medikamente etwa sind sie zwingend. Durch die Auswahl der Studienteilnehmer:innen und die begrenzte Studiendauer bilden solche Studien allerdings die Versorgungsrealität nicht ab. So kann es vorkommen, dass Jahre später schwerwiegende Nebenwirkungen beobachtet werden, die im Rahmen der Zulassungsstudien nicht aufgetreten sind. Manchmal müssen Medikamente oder Impfstoffe dann sogar wieder vom Markt genommen werden.

Die Versorgungsrealität abbilden

Darum sind ergänzende Studien wichtig, die die Wirksamkeit und Sicherheit von Therapien unter Alltagsbedingungen untersuchen. Versorgungsforschung tut genau das. Dabei werden auch die Begleitumstände der „Alltagspatient:innen“ in den Blick genommen, etwa das Alter, das Gesundheitsverhalten, der sozioökonomische Status, Begleiterkrankungen oder Begleitmedikamente. Denn all das kann Einfluss auf therapeutische Effekte haben. Prospektive Beobachtungsstudien beschreiben die medizinische Versorgung, wie sie in der Realität stattfindet. Rückschlüsse auf einen kausalen Zusammenhang zwischen einer Therapie und ihrer Wirkung oder Nebenwirkung lassen sich aber erst ziehen, wenn es eine Kontrollgruppe gibt, die eine andere Therapie oder gar keine bekommen hat.

Medikamente oder einzelne Therapieverfahren sind keineswegs alles, was die Versorgungsforschung evaluiert. Per allgemein anerkannter Definition ist die Versorgungsforschung „ein fachübergreifendes Forschungsgebiet, das die Kranken- und Gesundheitsversorgung und ihre Rahmenbedingungen beschreibt […], die Umsetzung neuer Versorgungskonzepte begleitend erforscht und die Wirksamkeit von Versorgungsstrukturen und -prozessen unter Alltagsbedingungen evaluiert.“ (Holger Pfaff, Edmund A. Neugebauer, Gerd Glaeske, Matthias Schrappe (Hrsg.): Lehrbuch Versorgungsforschung: Systematik - Methodik - Anwendung. Schattauer, Stuttgart 2011)

Versorgungsforschung ist also ein sehr großes Feld, das auch Strukturen oder einzelne Prozesse unseres Gesundheitssystems auf den Prüfstand stellt. Sie fragt im Grunde danach, welche Leistungen uns im Alltag wirklich helfen. Manchmal geht es dabei auch um Kosten-Nutzen-Analysen, das ist wichtig für die Krankenkassen. Doch in der Regel steht die Verbesserung der Lebensqualität der Patient:innen im Vordergrund.

So fragt zum Beispiel das Versorgungsforschungs-Projekt CARES danach, ob Krebspatient:innen leichter in ihren Beruf zurückkehren können, wenn sie durch Berufslotsen in Krebsberatungsstellen unterstützt werden. Die intensivierte Begleitung von Patient:innen mit fraglicher Wiedereingliederungsprognose wird in dem Projekt nicht nur evaluiert, sondern gar erst entwickelt.

„Patient-Reported Outcome“ – ein wichtiges Instrument der Versorgungsforschung

Ein anderes Beispiel für Versorgungsforschung ist das Projekt PROMchronic, in dem es um die Versorgung chronisch Kranker geht. Durch Befragungen von Betroffenen mittels digitaler Patient Reported Outcome Measures (PROMs) und Patient Reported Experience Measures (PREMs) sollen Versorgungslücken identifiziert und die Behandlung verbessert werden. Bei den Befragungen stehen ganz die Bedürfnisse und Erwartungen der Patient:innen im Vordergrund.

Laut Bertelsmann-Stiftung tragen solche Patientenbefragungen erheblich zu einer besseren Versorgungsqualität bei. „Ein patientenzentriertes Gesundheitssystem muss messen, was für die Patientinnen und Patienten wichtig ist“, schreibt die Stiftung in ihrem Bericht Patient-Reported Outcomes. Die klinische Perspektive allein reiche nicht: „Die Wahrnehmung derer, die versorgt werden, liefert Informationen zu zentralen Qualitätsaspekten, die anderweitig nicht ermittelt werden können.“

Nach einer aktuellen Untersuchung der Stiftung kommen patientenzentrierte Erhebungen in Deutschland aber viel zu kurz. Zum Beispiel werde eine Patientin nach einer gelungen Hüftoperation, in der Regel nicht danach gefragt, wie es ihr Monate später mit dem neuen Hüftgelenk geht. Kann sie ihren Alltag nun besser bewältigen, kann sie wieder Treppen steigen, einkaufen gehen oder Rad fahren? Hat sie noch Schmerzen? Diese Fragen kann nicht der Entlassungsbericht der Klinik, sondern einzig und allein die Patientin beantworten. Oder eben eine gute Versorgungsforschung.

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Hier könnt ihr ein Interview zum Thema mit Dr. Schmidt-Troschke lesen: „Wir brauchen mehr Versorgungsforschung“.

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