18. Januar 2023 - Den ersten Teil des Interviews findest du hier. 

weil's hilft!: Die Teilnehmer:innen, die am Bürgergutachten Gesundheit mitgearbeitet haben, weisen auf eine Reihe von Defiziten in der Gesundheitsversorgung hin. Welche Probleme erleben Sie in Ihrem Umfeld beziehungsweise bei Ihren Patient:innen als die gravierendsten und welche Ideen haben Sie, diese zu beheben?

Aus meiner Sicht stellt die kollektive Zeitnot das größte Defizit dar. Da geht es noch nicht einmal um die medizinische Ausrichtung. Da geht es vor allem darum, dass Räume fehlen, in welchen wir uns wirklich füreinander interessieren können. Ohne dieses wirkliche Interesse an dem Anderen kann keine gute Medizin gemacht werden. Interesse ist eine seelische Haltung und da braucht es seelische Kapazitäten, die in jedem Menschen erschöpflich sind. Bei einer zu großen Zahl von Patient:innen in zu kurzer Zeit muss jeder aus Schutz dieses öffnende Interesse zurückfahren. Dann fällt aus meiner Sicht genau das weg, was einen Menschen ausmacht: die seelische Hingabe, in der man sich mit dem anderen Menschen empathisch verbinden kann und in die andere Innenwelt eintaucht. Daraus folgen dann automatisch differenzierte Diagnosen und therapeutische Ideen. Daher ist für mich mehr Zeit in der menschlichen Begegnung die Grundbedingung für die Lösung vieler weiterer Probleme im ärztlich-therapeutischen Handeln.

Die Bürgergenossenschaft soll auf lokaler Ebene diese politisch hervorgerufene Zeitnot durch eine solidarische Querfinanzierung beheben. Damit werden auch Lebensstilberatung, multiperspektivische Ursachenklärung sowie eine integrativmedizinische Beratung und Behandlung umsetzbar, die sonst immer den Rahmen der finanziellen Spielräume einer Sprechstunde sprengen und daher auf Dauer nicht als kostenlose Regelleistung erbracht werden können.

Auch therapeutische Heilbehandlungen können durch die Bürgergenossenschaft subventioniert werden, die sonst in den allermeisten Fällen von den Patient:innen selbst getragen werden müssen und daher oftmals nicht am Bedarf, sondern an den Möglichkeiten des Geldbeutels entschieden werden.

Gibt es weitere Ideen beziehungsweise Impulse?

Für uns ganz wesentlich ist, dass wir als Bürgergenossenschaft mit Vorträgen, Seminaren, Kursen und Dialogforen zu lebensrelevanten Themen gemeinsam an einer neuen Gesundheitskultur bauen können: Die Themen reichen vom Geborenwerden bis zum Sterben, von klassischen Lebensstilfaktoren wie Ernährung und Bewegung, über pädagogische Fragestellungen und den Umgang mit chronischen und seelischen Erkrankungen bis hin zu sozialen Fragen und Zukunftsperspektiven. Dabei ist es uns wichtig, voneinander und miteinander zu lernen und nicht nur den 1:1-Kontakt der Sprechstunde zu nutzen. Wir möchten uns vor allem darin unterstützen, neue Lebensweisen langfristig auch praktisch zu verankern. Hier sind wir momentan dabei, unter dem Namen "WIRK-Stoff" mit einem Mitmach-Bürger-Dialog eine Plattform zu schaffen, in der die Bürger:innen selbst aktiv werden und neue Konzepte und Formate entwickelt und erprobt werden können, in welchen wir Menschen selbst, in der Gemeinschaft zum WIRkstoff werden.

Die Versorgung der Bevölkerung auf dem Land ist zu einem ernsten Problem geworden, die (Haus)Ärzt:innendichte wird immer geringer und die Patient:innen warten zum Teil wochenlang auf einen Termin. Kann Ihre Bürgergenossenschaft einen Weg aus dieser strukturellen Problemlage weisen?

 Wir denken ja, denn der Mangel an ärztlicher Versorgung auf dem Land, kommt meines Erachtens aus mehreren Gründen zustande:

  1. Eine Einzelkämpferpraxis auf dem Land ist für eine familieninteressierte Generation nicht mehr attraktiv, denn es war und ist ein rund um die Uhr Job. Durch die stetig gestiegene Geschwindigkeit in unserer so schnelllebigen und eindrucksüberfluteten Welt ist das auch kräftemäßig eigentlich nicht mehr gesund zu schaffen. Im Studium habe ich ein Blockpraktikum bei einem Hausarzt gemacht, der unvorstellbare 100 Patient:innen am Tag gesehen hat! Daher bedarf es Orte, in welchen Menschen im Team arbeiten und sich damit gegenseitig entlasten können.
  2. Daneben stellt das Arbeiten in einem multiprofessionellen Team eine Entwicklungsplattform auch für uns Gesundheitsberufler:innen selbst dar: sowohl fachlich-inhaltlich, als auch auf der persönlichen Ebene und im Sozialen. Man kann schwierige Situationen gemeinsam tragen und fachlich mit deutlich mehr Kompetenz begleiten. Wir gehen zudem davon aus, dass die Multiprofessionalität für die Patient:innen im ambulanten Bereich in ähnlicher Weise qualitative Vorteile schafft wie im stationären Bereich.
  3. Die Selbständigkeit ist ohne wirkliche Option für Elternzeit, Teilzeit oder Krankenzeit kein Weg für eine mittlerweile von Frauen dominierte Medizin, in welcher wir heute stehen. Insofern ist die Landarztpraxis im herkömmlichen Sinne ein Auslaufmodell, welches so nicht weiter fortbestehen kann. Für eine weibliche Medizin braucht es auch im ambulanten Sektor Möglichkeiten einer Anstellung, auch in Teilzeit, jedoch ohne den Bezugsarzt oder die Bezugsärztin für die Patient:innen aufgeben zu wollen, da damit eindeutig ein Qualitätsverlust einhergehen würde.

Daher sehen wir die Zukunft in lokalen Gesundheits- und Lebensorten, wo Gesundheitsberufler:innen interprofessionell zusammenarbeiten und im Anstellungsverhältnis, je nach Lebenssituation, ihr Pensum anpassen können.

Dabei ist es aber entscheidend, dass sich das Team gemeinsam bildet und nicht von einem Investor oder Inhaber zusammengewürfelt wird. Zwischenmenschliche Wärme, Vertrauen, eine gemeinsame Vision und wirkliches Interesse müssen diese Menschen verbinden, damit ein Ort entsteht, der die Menschen in ihren Bedürfnissen abholen und befriedigen kann und die "Übergaben" durch die Teilzeitstellen nicht zudem zu Fehlerquellen werden. Auch hier braucht es mehr Zeit für die soziale Komponente einer guten Zusammenarbeit: Zeiten für Austausch, Fallbesprechungen, gemeinsame Unternehmungen und Beziehung untereinander. Ansonsten wird das Team kein Team werden oder bleiben, was unserer Meinung nach aber entscheidend für die Qualitätssicherung einer Einrichtung ist.

Diese lokalen Orte können dann darüber hinaus Kristallisationspunkt für viele Bürgerinitiativen sein. Die Bürgergenossenschaft kann auch hier Spielräume schaffen und damit zur Qualitäts-, Sinn-, und Zufriedenheitssteigerung aller Beteiligten beitragen.

Ich habe das Gefühl, unter solchen neuen Bedingungen könnte die Attraktivität einer ärztlichen oder therapeutischen Tätigkeit auf dem Land sogar größer sein als die Arbeit im urbanen Kontext.

Im Bürgergutachten Gesundheit fordern die Teilnehmer:innen auf vielerlei Ebenen ‘Gerechtigkeit’ ein, insbesondere was den Zugang zum Gesundheitswesen angeht. Was bedeutet ‘Gerechtigkeit’ im Zusammenhang mit der Bürgergenossenschaft und wie wollen Sie sie verwirklichen?

Unser Anliegen war es, das Zweiklassensystem von privat- und gesetzlich versicherten Patient:innen aufzuheben, indem wir eine menschenorientierte Gesundheitsversorgung umsetzen, die unabhängig vom Versichertenstatus ist.

Das haben wir nun rechtlich so gelöst, dass die Bürgergenossenschaft für alle Menschen diese Qualitätssteigerung ermöglicht, ganz gleich, ob die oder der Einzelne Mitglied ist oder nicht. Wenn kein Mensch Mitglied wird, funktioniert die Sache für niemanden; je mehr Menschen den Gemeinschaftsvorteil darin sehen, umso größer wird die Qualität für alle. Diejenigen, die nicht sofort den eigenen Impuls verspüren, der Genossenschaft beitreten zu wollen, werden zunächst mitgetragen und irgendwann wird hoffentlich dieser Gemeinschaftsgewinn durchsickern und immer mehr Menschen der Genossenschaft beitreten lassen. Dazu braucht es ein neues Denken in Bezug auf Gewinn und Einsatz, aber mit der Gründungsmitgliederzahl von 333 schauen wir voller Vertrauen und Optimismus in die Zukunft. Die Erfahrung der Gründungsveranstaltung zeigt: Die Welt ist reif für einen Paradigmenwechsel.

Dr. med. Anne-Gritli Göbel-Wirth, geboren 1986 ist Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Aktuell in zusätzlicher Weiterbildung zur Allgemeinmedizin zur Zusammenführung der beiden Fachbereiche für eine ganzheitliche Familienmedizin.

Noch mehr Informationen dazu unter: www.lebensgarten-gruene-aue.de

Lebensgarten Grüne Aue auf Youtube

 Willst du das Projekt unterstützen und Fördermitglied werden? Dann hier entlang: https://lebensgarten-gruene-aue.de/buergergenossenschaft/#mitgliederantrag

Den ersten Teil des Interviews findest du hier.