17. Januar 2023 - weil's hilft!: Frau Göbel-Wirth, am 27. Mai 2022 haben Sie gemeinsam mit weiteren Mitstreiter:innen die Bürgergenossenschaft ‘Grüne Aue’ Hermaringen eG in Baden-Württemberg gegründet und bezeichnen ihr Projekt als ein neuartiges, zukunftsweisendes Modell in der ambulanten Gesundheitsversorgung. Was war der Auslöser für die Gründung und was genau ist daran neu?

Der Auslöser für die Suche nach einer neuen Form liegt bei mir schon lange zurück: Bei meinem ersten Kontakt mit unserem Gesundheitssystem, im Pflegepraktikum vor dem Medizinstudium, bemerkte ich bereits die kollektive Zeitnot und hatte die Wahrnehmung einer ‘Abfertigungsmaschinerie’, unter der alle im Krankenhaus zu leiden schienen. Das hat mich zutiefst erschreckt. Die meisten Pflegenden und Ärzt:innen rieten mir sogar von diesem Studium ab, da die Bedingungen nicht mehr menschenwürdig seien. Ich spürte aber deutlich, dass mich alles in diese Tätigkeit am und mit dem Menschen zog und so wusste ich, dass das Umschwenken meines Berufszieles keine Option war. Also trat ich das Studium bereits mit dem Ziel an, andere Wege zu finden, damit wieder „Heilräume“ entstehen können.  

Wie sehen diese neuen Wege genau aus?

 Das Neue an unserem Projekt ist wahrscheinlich gar nicht die inhaltliche Vision als solche. Die Vision eines wirklichen Lebens- und Gesundheitsortes haben und hatten schon viele Menschen selbst Generationen vor uns, denn das System verengt sich ja bereits seit Jahrzehnten und das zunehmende mechanistische Menschenbild lässt auch in der Zukunft noch einiges erwarten. Das Neue daran sind die Strukturen und die Einbeziehung der Menschen, sozusagen das Grundgerüst, welches eine solidarische Verknüpfung mit den Bürger:innen in der Region in Form einer Genossenschaft vorsieht. Der Aufbau und Erhalt einer solchen Genossenschaft erfordern vor allem Beziehung auf Augenhöhe und Vertrauen, was absolute Authentizität und Transparenz verlangt.

Die Rechtsform einer Genossenschaft fühlt sich dabei für unser Anliegen genau richtig an: Wenn wir uns eine neue, beziehungsorientierte, gesunde Lebenskultur wünschen, die die verschiedenen Dimensionen des Menschseins anspricht und integriert, gleichzeitig aber auch – im Falle von Erkrankung – eine individuelle, ganzheitliche Behandlung mit Raum für menschliche Begegnung und das Gespräch möglich werden soll, dann müssen wir uns zusammentun. Keiner allein könnte dies schaffen und bezahlen. Auf lange Frist kommen wir dann zu einer neuen Gesundheitskultur, die wir dringend brauchen. 

Was ist das Besondere an der Genossenschaft als Rechtsform?

 Juristisch könnte man die Idee sicherlich in verschiedenen Rechtsformen umsetzen. Wenn man weiß, was man will, dann können Haftung, Verantwortung, Mitbestimmung, Transparenz etc. auch in den Satzungen anderer Rechtsformen dementsprechend gestaltet werden; das zugrundeliegende Wesen der Rechtsform, die zugrundeliegende Haltung aber machen einen Unterschied. Ich bin sicher, dass es eben nicht egal ist, ob wir einen Förderverein oder eine Bürgergenossenschaft haben. Wir wollen einfach wissen, was passiert, wenn man das Wesen einer Genossenschaft an seinen 150 Jahre alten Wurzeln packt, die von Friedrich Wilhelm Raiffeisen genau in diesem Sinne gedacht waren, und daraus eine gemeinnützige Genossenschaft macht. Das gibt es als Rechtsform höchst selten, da Genossenschaften im heutigen Sinne eigentlich immer gewinnorientierte Firmen sind, in denen die Mitglieder die Gewinne als anteilige Dividende ausgeschüttet bekommen. Eine gemeinnützige Bürgergenossenschaft gibt nach unserem Wissen noch gar nicht und erst recht nicht in unserem rechtlich sehr eingeengten Gesundheitssektor. Wir haben für unser Konzept sehr viel neu entwickeln müssen. Es bedurfte an dieser Stelle ein Zusammendenken von Gesundheitsrecht, Gemeinnützigkeitsrecht und Genossenschaftsrecht. Da es diese Zusammenführung bisher noch nicht gab, brauchte es viel Austausch und die Zuziehung der verschiedensten Experten aus den entsprechenden Bereichen, die alle mit Engagement dabei waren. Schließlich hat sich ein Weg abgezeichnet, wie wir unsere Vision bis in die rechtlichen und wirtschaftlichen Strukturen unserer Gesellschaft zum Leben erwecken können. Dass wir es bisher so weit geschafft haben, liegt aus unserer Sicht aber vor allem daran, dass die Idee als solche so sinnvoll einleuchtet, dass wir überall die entsprechenden Menschen für die Sache begeistern und gewinnen konnten – und dabei hatten wir durchweg einen sehr großen und unübersehbaren Schicksalsrückenwind.

Welche Ziele verfolgen Sie ganz konkret?

Uns geht es darum, dass wir uns zusammentun, bevor wir als Einzelkämpfer:innen frustriert unsere Kraft verlieren. Hier geht es um die lokalen Menschen, aber letztendlich denke ich, dass es bis hin zur Weltgemeinschaft keinen anderen Weg für eine gemeinsame lebenswerte Zukunft gibt. Dafür braucht es ein ‘uns Herausbewegen aus unseren Subkulturen’, in welchen wir uns immer nur mit ähnlich Denkenden und Lebenden umgeben und es kaum Berührungsflächen zwischen diesen ‘Blasen’ gibt. Im schlechtesten Fall denken wir innerhalb jeder ‘Blase’ auch noch, dass wir es besser als die anderen wüssten. Das müssen wir im Kleinen üben. Ganz lokal, wenn wir eine gesellschaftliche und letztendlich auch globale Transformation anstreben. Das Thema Gesundheit eignet sich dabei besonders gut, da es jeden Menschen betrifft und jeder in diesem Punkt hilfebedürftig ist. Not ermöglicht immer neue Offenheiten.

Uns geht es außerdem darum, wie wir uns als lokale Gemeinschaft mit einer Vision identifizieren können und sie dann gemeinsam umsetzen; wie alle ihre Fähigkeiten einbringen können - in einer liebevollen Atmosphäre, die Entwicklung ermöglicht. Wie gelingt ein zufriedenes, sinnerfülltes Leben? Nicht in der Theorie, sondern in der Praxis. Eine sinnhafte Lebenskultur entspricht aus unserer Sicht einer ganzheitlichen Gesundheitskultur, die wir benötigen. Und wie schaffen wir es, dies gemeinsam anzugehen und durch die gemeinsame Umsetzung mit der Zeit immer mehr zusammen zu wachsen und reicher zu werden - nicht an Geld, sondern an Lebensqualität und Sinn?

Und uns geht es darum, dass die Strukturen auf Beziehung und Vertrauen aufbauen und ein Fundament bilden. Die Strukturen müssen fest verankert werden, damit diese sozialen Qualitäten nicht aus Zeitmangel hinten runterfallen. Das bedeutet konkret, dass wir die Beziehungen zur Gemeinde und den Bürger:innen durch das gemeinsame Tun und Erleben pflegen. Wir machen uns berührbar und nahbar, da wir alle uns als Menschen gegenseitig brauchen. Da stehen wir auf der gleichen Ebene. Wir schaffen also eine authentische Berührungsfläche sowohl im Sinne der rechtlichen Transparenz- und Aufbereitungspflicht einer gemeinnützigen Genossenschaft als auch unter den Menschen selbst.

Den Grundstein haben wir an Himmelfahrt 2022 gelegt und die Genossenschaft ist seit Anfang Dezember nun auch ins Register eingetragen. Sitz der Genossenschaft ist am Rathaus Hermaringen. Die Resonanz war überwältigend: 333 Gründungsmitglieder haben unterschrieben. Noch dazu aus den verschiedensten Schichten und ‘Szenen’ oder ‘Blasen’, wie auch immer man das nennen möchte. Normalerweise kenne ich Projekte immer nur innerhalb einer Szene. Für mich ist dieses enorme Sozialprojekt - die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache und Kommunikationsebene - mindestens genauso wichtig wie unser Ziel, eine menschenwürdige gemeinschaftsbasierte Gesundheitsversorgung für alle bezahlbar werden zu lassen und eine neue Gesundheitskultur auf dem Boden einer Bürgergenossenschaft wachsen zu lassen. Im deutschen Gesundheitswesen ist es daher meines Wissens ein wirklich neuer Ansatz. 

Dr. med. Anne-Gritli Göbel-Wirth, geboren 1986, ist Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Aktuell in zusätzlicher Weiterbildung zur Allgemeinmedizin zur Zusammenführung der beiden Fachbereiche für eine ganzheitliche Familienmedizin.

Noch mehr Informationen dazu:  www.lebensgarten-gruene-aue.de

Lebensgarten Grüne Aue auf Youtube

 Willst du das Projekt unterstützen und Fördermitglied werden? Dann hier entlang: https://lebensgarten-gruene-aue.de/buergergenossenschaft/#mitgliederantrag

Den zweiten Teil des Interviews findest du hier.