05. August 2021 - Zum weil's hilft! Spezialthema #EineMedizin hat sich Dr. Stefan Schmidt-Troschke, Geschäftsführender Vorstand von Gesundheit Aktiv Gedanken über die Zukunft des Gesundheitswesens gemacht. Was läuft schief aktuell, welche Herausforderungen gibt es, wie könnten Modelle für die Zukunft aussehen und welche Rolle kann Integrative Medizin dabei spielen? 

Es ist verhext: Deutschland verfügt über ein sehr differenziertes Gesundheitswesen, ein System, was international gelobt wird, weil es niedrigschwellig zugänglich für Patient*innen ist. Warum aber finden viele Menschen mit Langzeiterkrankungen keinen wirklichen Anschluss darin? Warum sind die vielen möglichen und verfügbaren Leistungen nicht besser aufeinander abgestimmt? Warum müssen Patientinnen und Patienten ihre Geschichten immer wieder von vorne erzählen? Und: Warum bekommen sie oft nicht die Therapien, die sich bei ihnen bewährt haben?

Die Antworten auf diese Fragen sind vielfältig. Und leider werden die Herausforderungen in diesem Bereich in Zukunft noch größer. In den nächsten Jahren werden tausende von Hausärzt*innen ihre Praxen aufgeben, ohne dass es einen Ersatz für sie geben wird. Gleichzeitig wird die Zahl älterer Menschen und derer, die unter chronischen Erkrankungen leiden, größer.

Zahlreiche Modelle für ganzheitliche Versorgung

Ein Lösungsansatz könnte darin bestehen, dass Pflegende, Therapeut*innen und Ärzt*innen regional besser zusammenarbeiten. Bereits seit Jahrzehnten gibt es international sehr vielversprechende Modelle für eine gesundheitliche Versorgung, die die soziale Lage der Menschen berücksichtigt und ihre Lebensverhältnisse, ihren Bildungsstatus und ihre Arbeits- und Wohnbedingungen in die Gestaltung der Angebote einbeziehen. Die Bosch-Stiftung hat 2015 ein Projekt dazu gestartet mit der Frage, wie sich hierzulande die Versorgung lokal so verbessern lässt, dass sie für die Menschen einen realen, spürbaren Unterschied mache. Verschiedene Initiativen in Berlin, Büsum, Hohenstein, Willingen-Diemelsee und Calw wurden gefördert, die eine patientenzentrierte, koordinierte, kontinuierliche Versorgung "aus einer Hand" anbieten und stetig weiterentwickeln. Wesentliches Ziel war und ist es, Patient*innen im Umgang mit ihrer Erkrankung zu unterstützen.

Dazu sollten:

* multiprofessionelle Teamarbeit auf Augenhöhe etabliert 
* neue Potenziale der Digitalisierung genutzt
* Prävention und Gesundheitsförderung mit der medizinisch-pflegerischen Versorgung über eine gute kommunale Einbindung verknüpft werden

Im ergänzenden Förderprogramm "supPORT - auf dem Weg zu Patientenorientierten Zentren zur Primär- und Langzeitversorgung" erhielten engagierte Akteure die Möglichkeit, bereits bestehende Kooperationen und Zusammenschlüsse in Richtung eines PORT-Zentrums weiterzuentwickeln. Der Stiftung ist wichtig, dass die Zentren anknüpfen an die jeweilige spezifische Situation in der Region. Jeder der bundesweit inzwischen dreizehn Standorte trägt den regionalen Anforderungen und Gegebenheiten Rechnung. Die Stiftung betont: "Gesundheitszentren nach dem PORT-Konzept haben das Potenzial, die Primärversorgung zu stärken und die sektorenübergreifende Arbeit zu erleichtern, indem die Organisation der Versorgung wohnortnah beim Patienten angesiedelt wird".

 

Einbetten in das Leben vor Ort

Bemerkenswert ist auch der Ansatz, die Gesundheitszentren einzubinden in das Leben der Region mit Nahtstellen zu sozialen Diensten und zur freien Wohlfahrtspflege. Auch Ehrenamtliche sollen einbezogen werden können. Menschen in Pflegeberufen können sich dem Zentrum anschließen und gemeindliche Pflegeaufgaben übernehmen, eine Tätigkeit, wie sie auch hierzulande durchaus bekannt ist, aber durch Kommerzialisierung und Privatisierung weitgehend zum Erliegen gekommen ist.

All das klingt zunächst etwas märchenhaft. Die Stiftung aber hat konkret darauf gesetzt, dass zunächst jeweils Teilaspekte dieses Ansatzes realisiert werden. Und so sind sehr interessante Modelle entstanden. Wesentlich scheint es zu sein, dass es engagierte Akteur*innen vor Ort gibt, die bereit sind die Initiative mitzutragen. Weiterhin aber fehlt es an einem Vergütungsmodell, mit dem übergreifend und niedrigschwellig Versorgung ermöglicht wird. Hier sind nun Modelle gefragt, die nun gemeinsam mit Krankenkassen erprobt werden sollen. Die gesetzlichen Voraussetzungen dafür sollten vorhanden sein: Über den Innovationsfonds der Bundesregierung könnten Modellprojekte aufgesetzt und evaluiert werden. Außerdem sind im Sozialgesetzbuch V Modellversuche erlaubt. Nichtsdestotrotz bedarf es weiterer gesetzgeberischer Initiativen: Hier müssten Anreize dafür geschaffen werden, um eine ganzheitliche Gesundheitsversorgung an einem Ort zu initiieren.

Und last but not least: Wie wäre es, wenn integrativmedizinische Ansätze hier einen neuen Platz finden könnten? Ist nicht ein solches regionales Angebot wie gemacht dafür, seriöse Angebote aus der Naturheilkunde und aus der Komplementärmedizin sinnvoll einzubeziehen? Wenn es wirklich gelingen soll, mit Patient*innen zusammenzuarbeiten, dann muss es darum gehen, ihre Präferenzen und Erfahrungen einzubeziehen. Eine dialogische Gesundheitsversorgung, wie sie durch die PORT-Zentren beabsichtigt wird, ist daher genau der Boden, den wir für eine integrative Medizin der Zukunft brauchen. Hier werden nicht nur verschiedene Versorgungsbereiche integriert, sondern auch die verschiedenen Perspektiven einer Sicht auf den Menschen und auf seine Gesundheit.