Unter dem Titel „Covid-19-Pandemie: Unsicherheit und Perspektiven“ haben anthroposophische Ärzt*innen am 12. und 13. Juni 2020 in einem Webinar gefordert, die reine Fokussierung auf das Virus gegen eine erweiterte Perspektive zu tauschen. Ziel war es, die Pandemie einerseits integrativ-medizinisch und andererseits sozial- und gesellschaftspolitisch in den Blick zu nehmen und einen interdisziplinären Austausch zu ermöglichen. Insgesamt waren 3.500 Teilnehmer aus 53 Ländern registriert.

„Bislang haben wir uns fast ausschließlich auf das Virus und die Vermeidung von Infektionen konzentriert. Auch die Hoffnung auf eine Impfung und die Entwicklung virostatischer Medikamente gehen in diese Richtung. Wir sollten aber auch den Wirt, also die Antwort des menschlichen Organismus auf die Infektion, stärker in die Perspektive einbeziehen“, erläutert Dr. Thomas Breitkreuz, Facharzt für Innere Medizin, Ärztlicher Direktor der Filderklinik und Vorstand der Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland (GAÄD): „Das Virus ist ja an sich immer dasselbe, die sehr unterschiedlichen klinischen Verläufe – von keinerlei Symptomen über Lungenversagen bis hin zum Multiorganversagen – hängen stark davon ab, wie der Organismus reagiert. Wir Anthroposophischen Ärzt*innen versuchen deshalb, nicht nur das Virus zu bekämpfen, sondern auch den gesamten Organismus so zu stärken, dass es zu einer kompetenten Immunantwort kommt, so dass schwere Verlaufsformen vermieden werden können.“

Integrativ handeln, interdisziplinär denken

Die Anthroposophischen Kliniken in Deutschland, allesamt in die (Intensiv-)Versorgung von Covid-19-Patient*innen eingebunden, arbeiten dabei intensiv an der Entwicklung integrativer Therapiekonzepte, also einer sinnvollen Verknüpfung schulmedizinischer und naturmedizinischer Behandlungsoptionen. Eine besondere Rolle spielen dabei ergänzende Verfahren und Arzneimittel, die sich bei anderen schweren Viruserkrankungen der Atemwege in den Anthroposophischen Kliniken über viele Jahre bewährt haben. In einer klinikübergreifenden Zusammenarbeit und mit Beteiligung an Registerstudien werden so schrittweise Covid-19-spezifische Therapieprotokolle entwickelt.

Ein weiterer Schwerpunkt, der in der Anthroposophischen Medizin intensiv diskutiert wird, ist die soziale Dimension von Covid-19: „Wie auch immer der weitere Verlauf der Pandemie sein wird – man kann jetzt schon sagen, dass das Virus unsere Gesellschaft verändert hat. Ängste, Unsicherheiten und Polarisierungen nehmen zu. Dem wollen wir mit offenen Fragen begegnen: Was lehrt uns die Krise?“, ergänzt Philipp Busche, Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie sowie ebenfalls Vorstandsmitglied in der GAÄD. „Jede Krise kann Chance oder Kränkung sein. Wir wollen Mut machen, die Krise tatsächlich als Anstoß für Veränderungen in der Medizin zu verstehen. Wir erleben in der Medizin Beziehungslosigkeit und eine extreme Ökonomisierung. Das erschwert die Vertrauensbildung, die die Grundlage einer wirklich menschlichen Medizin sein muss“, sagt Busche.

Aber Covid-19 betrifft nicht nur die Medizin und unser Gesundheitssystem an sich, sondern beeinflusst viele weitere Lebensbereiche: „Gesundheit ist eben kein rein medizinisches Thema”, so Busche. „Die Verhinderung von Pandemien braucht auch ein neues Verhältnis zur Landwirtschaft, insbesondere zur Tierhaltung. Die aktuelle Wirtschaftskrise regt an, Geld neu zu denken. Der Blick in die Schulen zeigt: Wir brauchen eine Pädagogik, die es auch in Krisenzeiten schafft, neben Wissensvermittlung Persönlichkeitsentwicklung, Beziehungsfähigkeit und Gesundheit zu fördern. Um diese Lebensfelder mitzudenken, brauchen wir dringend mehr interdisziplinären Austausch. Dafür macht sich die Anthroposophische Medizin heute mehr denn je stark.“

Neben Anthroposophischen Ärzt*innen sprechen sich mittlerweile viele weitere Expert*innen für die Einbindung naturmedizinischer Ansätze in die Therapie von Covid-19 aus. So fordert die Hufelandgesellschaft, der Dachverband der Ärztegesellschaften aus dem Bereich der Naturheilverfahren, in einem Positionspapier, nicht ausschließlich erregerorientiert vorzugehen, sondern die Erkenntnisse der Integrativen Medizin zu nutzen, um die individuelle Gesundheit und Immunabwehr zu stärken. Wichtig und in der Diskussion bislang völlig vernachlässigt: Gelingt es, die sogenannten Zivilisationskrankheiten wie Diabetes mellitus, koronare Herzkrankheit, Bluthochdruck und Übergewicht insbesondere durch Lebensstiländerungen zurückzudrängen, verringert dies die Infektanfälligkeit größtmöglicher Bevölkerungsanteile deutlich. Eine Perspektive, die nicht nur aktuell, sondern besonders im Hinblick auf absehbar neue oder Mutationen bekannter Erreger von Bedeutung ist, die nicht auf etablierte Arzneimittel oder Impfungen ansprechen. 

Den nicht nur pathologischen, auf Medikamente ausgerichteten Umgang mit Covid-19 betonen auch weitere renommierte Wissenschaftler*innen und Naturheilkundler*innen, die der Kneipp-Bund befragt hat. Alle bestätigen die herausragende Rolle eines gestärkten Immunsystems und betonen die Eigenaktivität der Menschen: Ein gesunder, ausgewogener Lebensstil hat entscheidenden Einfluss auf die Abwehrkräfte und das Immunsystem.