23.Juni 2021 - Seit der Covid-19 Pandemie stehen die Versorgungsstrukturen in deutschen Krankenhäusern verstärkt im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit, insbesondere der Mangel an Pflegekräften wurde immer wieder, gerade im Zusammenhang der intensivmedizinischen Versorgung, problematisiert. Doch wie konnte es überhaupt zu so einer prekären Situation kommen? 

Gesundheitsfürsorge als Investitionsobjekt

Die Antwort ist banal: Der Notstand war schon vorher da. Er hat aber in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle gespielt, erst die Coronakrise zeigt wie in einem Brennglas die dramatischen Folgen. Die Ursache für den Mangel an Pflegekräften und deren chronische Überlastung im Mehrschichtbetrieb ist die Profitorientierung des deutschen Gesundheitssystems. Die Krankenversorgung ist immer stärker zu einem Investitionsobjekt geworden.

Intensivpfleger Ricardo Lange erklärt laut Redaktionsnetzwerk Deutschland dazu: „Er hat es wieder getan! Jens Spahn betont, dass man das Gesundheitssystem nicht überlasten darf! Ein System, in dem jede Pflegekraft seit Jahren (!) an ihrer Belastungsgrenze und darüber hinaus arbeitet. Überlastungs- beziehungsweise Gefährdungsanzeigen – welche ja warnen, dass eine Patienten­gefährdung nicht ausgeschlossen werden kann – sind schon lange an der Tagesordnung. Ein System, das nur noch durch die Aufopferungsbereitschaft des Personals aufrechterhalten werden kann, welches permanent aus dem Frei oder Urlaub einspringt!“

Die Absicht der Gewinnmaximierung mit dem Fokus auf die Ausschüttung von Dividenden bestimmen über weite Strecken, was in Krankenhäusern des Landes geschieht. Unter diesem marktwirtschaftlichen Bedingungen sind Pflegekräfte ein Kostenfaktor, den es zu minimieren gilt, etwa durch niedrige Löhne, großer Arbeitsverdichtung und hoher Arbeitsbelastung. Das Resultat: Seit Jahren verlassen immer mehr Fachkräfte die Pflegeberufe. Mit der 2018 erschienenen Pflege-Comeback-Studie fand man heraus, dass zirka die Hälfte aller Aussteiger zurückkehren würden, wenn die Bedingungen stimmten: "Ihre Bereitschaft für eine Rückkehr in die Pflege knüpfen die Befragten an vielfältige Veränderungen. Am häufigsten werden 'andere Strukturen und Arbeitsbedingungen' genannt. 42 Prozent betrachten diesen Aspekt als wichtige Voraussetzung. Mehr als ein Drittel der Befragten (36 Prozent) fordern mehr Personal. Bessere Bezahlung bewerten 30 Prozent als entscheidenden Faktor."

Die Krux mit den Fallpauschalen

Eine der wesentlichen Schwachstellen des derzeitigen Systems sind die sogenannten Fallpauschalen, die 2003 eingeführt wurden. Diesen gemäß werden alle Erkrankungen sowie Untersuchungen und Therapien, die Kliniken durchführen, einem bestimmten Schlüssel zugeordnet, aus dem sich die Vergütung ergibt. Die Höhe der Pauschalen wird auf Basis der durchschnittlichen Behandlungskosten in repräsentativen Kliniken jährlich neu kalkuliert. In Kombination mit Mengenkontingenten für verschiedene Leistungen deckelt das System die Gesamtausgaben für stationäre Krankenhausleistungen. Infolgedessen konkurrieren Kliniken um Patienten und sehen sich mit Anreizen konfrontiert, ein Übermaß an Diagnostik und Therapie zu betreiben und Personal einzusparen.

Ein Patient ist für ein Krankenhaus rentabel, wenn möglichst viel an und mit ihm gemacht wird. In der Praxis kann das bedeuten, dass aufwendige Untersuchungen oder sogar Operationen durchgeführt werden, obwohl eine weniger invasive Behandlung den gleichen Erfolg erzielen könnte. Herzkatheteruntersuchungen oder Rückenoperationen sind beispielsweise lukrativer als längere Gespräche zur Diagnosefindung oder die Beobachtung des Patienten.

Die Einführung des Fallpauschalensystems führte zudem zu einem massiven Abbau an Pflegekräften, weil die Kliniken versuchten, wo immer möglich ihre Kosten zu deckeln. Die Konsequenz: Gefährdung des Patienten durch mangelnde Betreuung.

Wie steht es heute um die Pflege?

Aufgrund der durch die Fallpauschalen erzeugten Pflegekrise, deren Folgen immer bedenklicher wurden, verabschiedete der Gesetzgeber 2018 das Pflegepersonalstärkungsgesetz (PPSG). Laut diesem werden die Personalkosten für am Krankenbett tätige Pflegekräfte aus den Fallpauschalen ausgegliedert und gesondert nach den tatsächlich in jedem einzelnen Krankenhaus entstehenden Kosten von den Kassen refinanziert. Prinzipiell ein Schritt in die richtige Richtung. Im Gesamtkontext des gewinnorientierten Gesundheitssystems jedoch ergreifen Krankenhäuser nunmehr aus finanziellen Gründen Maßnahmen, die wiederum zulasten der Patienten und der Beschäftigten gehen. So wird etwa versucht, möglichst viele Berufsgruppen in das Pflegebudget einzurechnen und gleichzeitig Mitarbeiter*innen, die hierbei von den Krankenkassen nicht anerkannt werden, zu entlassen.

In der vergangenen Woche hat der Deutsche Bundestag zwar das "Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz" (GVWG) in zweiter und dritter Lesung beschlossen, mit dem Ziel, Pflegekräfte etwas besser zu bezahlen und Pflegebedürftige und deren Angehörige zu entlasten. Viel wird sich dadurch aber nicht verbessern, denn die darin enthaltenen Neuerungen sind von einer umfassenden Pflegereform weit entfernt.

Man kann es also drehen und wenden, wie man will: Solange die Politik sich nicht dafür einsetzt, dass Gesundheitsfürsorge gemeinwohl- statt gewinnorientiert organisiert wird, sind die Missstände im Pflegebereich kaum zu beheben. Sinnvolle Maßnahmen in diesem Bereich wären etwa Personaluntergrenzen und Tarifverträge, die eine optimale Versorgung von Patient*innen ermöglichen sowie die volle Refinanzierung aller tatsächlich angefallenen Ausgaben durch die Kassen.

Welche dramatischen Folgen für die Allgemeinheit marktwirtschaftliches Denken im Medizinbetrieb hat, wird im Rahmen der Coronakrise auch an anderen Stellen immer deutlicher: Durch finanzielle Fehlanreize hat die Regierung dafür gesorgt, dass Krankenhäuser weniger freie Betten meldeten, als tatsächlich zur Verfügung standen, um Bonuszahlungen zu erhalten, wie kürzlich der Bundesrechnungshof aufdeckte.

Weil's hilft! setzt sich deshalb für ein demokratisches, menschliches Gesundheitssystem ein, in dem Patient*innen und nicht die Dividenden im Mittelpunkt stehen.