Martina Bögel Witt kleinIn dieser durch die Corona-Pandemie geprägten Zeit fragen sich immer mehr Menschen, was sie selbst tun können, um ihr Immunsystem zu stärken und gesund zu bleiben. Was kann die Chinesische Medizin da beitragen?

Die Behandlung von Corona-Infektionen liegt hierzulande in den Händen der Schulmedizin. In China wird die schulmedizinische Behandlung öfters mit der Chinesischen Arzneimitteltherapie kombiniert. Hier besteht die Möglichkeit, das Immunsystem mit Chinesischen Rezepturen im Vorwege zu stärken. Sie werden in der Regel individuell an die Bedürfnisse angepasst. Zusätzlich zu den Arzneimitteln sollten Menschen einen gesunden Lebensstil pflegen: Zur gesunden Lebensweise gehört regelmäßige Bewegung, gesunde Ernährung (im Sinne der Chinesischen Diätetik) und ausreichend Schlaf. Außerdem sollten Aufregung und emotionale Extreme vermieden werden.

 

 Welche Rolle spielt die Ernährung in der Chinesischen Medizin?

Ernährung ist die grundlegende Säule in der Chinesischen Medizin und das Fundament der Lebenspflege (Yang Sheng). Jede Speise entfaltet über ihren Geschmack eine bestimmte energetische Richtung. So zieht der saure Geschmack  zusammen und hält die Säfte, der bittere Geschmack leitet ab, der süße Geschmack befeuchtet, der scharfe Geschmack leitet nach oben und der salzige Geschmack geht in die Tiefe und löst Verhärtungen auf. Darüber hinaus hat jedes Lebensmittel ein bestimmtes Temperaturverhalten. Werden Ernährungsempfehlungen für Patienten ausgesprochen, wird die Energetik auf der Basis der konstitutionellen Anlagen und der gesundheitlichen Situation berücksichtigt. Ein praktisches Beispiel: Ein Patient „Typ Manager“, der beruflich gestresst ist, unter Bluthochdruck leidet und auch oft zornig reagiert. Er liebt scharfe Speisen und isst viel Fleisch. Beides ist in diesem Fall eher  kontraproduktiv, denn es könnte dazu führen, dass die Blutdruckproblematik noch weiter zunimmt. Für ihn wären milde, temperaturausgleichende Speisen besser geeignet.

In Deutschland zwar bekannt, dennoch für westliche Patient*innen ungewöhnlich: Puls- und Zungendiagnostik. Was genau passiert da?

Darüber hört man viel, aber beide sind natürlich nicht die alleinigen Diagnose-Parameter. Als erstes sieht man das Erscheinungsbild des Patienten. Wenn er/sie die Praxis betritt, wirkt er/sie z. B. schwach oder kraftvoll im Gangbild oder in der Haltung. Auch im Gespräch kann man alleine durch die Lautstärke, das Sprachtempo und den Ausdruck einen weiteren Eindruck gewinnen.

Zur Zunge: Die grundsätzliche Zungenform ist vererbt: Es gibt größere Zungen, kleinere, breitere und schmalere. Die Zunge wird in der TCM als ein Mikrokosmos angesehen: Auf ihr sind die Organe abgebildet. 

Die Grundfarbe, der Zungenbelag, die Unterzungenvenen oder Risse auf der Oberfläche lassen Rückschlüsse auf den Zustand des Patienten zu. So weist z.B. eine feuerrote Zunge auf eine Hitzesymptomatik hin.

Die Pulsdiagnostik ist ein komplexes Thema und erfordert viel Erfahrung. Es werden nicht nur ein, sondern drei Finger angelegt. Man fühlt die unterschiedlichen Organe in ihren Positionen. Es geht darum, das Charakteristische des Pulsbildes zu erfassen, z. B. ob der Puls schnell oder langsam, voll oder leer ist, ob er sich gespannt oder weich anfühlt. Es gibt hier über 30 verschiedene Pulstypen.

Welche Therapieverfahren umfasst die Chinesische Medizin insgesamt?

Die Chinesische Medizin fußt auf fünf Säulen. Am bekanntesten in Deutschland ist sicherlich die Akupunktur. Dazu kommt die Arzneimitteltherapie, die in China den höchsten Stellenwert in den therapeutischen TCM-Verfahren hat.  Hinzu kommen die manuellen Verfahren, Tuina genannt, die Chinesische Diätetik, und last but not least Qigong und Tai jiquan. Unter bestimmten Voraussetzungen empfiehlt sich die Kombination ausgewählter Therapieverfahren.

In Deutschland am bekanntesten und anerkanntesten ist die Akupunktur. Bei welchen Diagnosen bzw. in welchen Situationen wenden Sie sie an? Und wie ist ihre Wirkung im Körper zu erklären?

Es gibt eigentlich so gut wie keine Einschränkungen in den Indikationen für den Einsatz der Akupunktur, allerdings Kontraindikation wie z. B. Verletzungen der Haut und auch in der Schwangerschaft sind bestimmte Akupunkturpunkte tabu. Akupunktur wirkt hauptsächlich energetisch; der Organismus soll hiermit wieder ins Gleichgewicht gebracht werden.

Neben anderen Verfahren wurde auch die Akupunktur in der Vergangenheit von verschiedener Seite als wirkungslos bzw. ‚Hokuspokus’ abgetan. Was können Sie entgegnen? Gibt es z.B. überzeugende Forschungsergebnisse?

Man muss ganz ehrlich sagen, dass die Naturmedizin darunter leidet, nicht die gleichen finanziellen Mittel für Forschung zur Verfügung zu haben, wie die Pharmaindustrie. Um von offizieller Seite anerkannt zu sein, müssen evidenzbasierte Studienergebnisse vorliegen (randomisiert, doppelblind). Mittlerweile gibt es eine Reihe an positiven Forschungsergebnissen für die Akupunktur in verschiedenen Feldern. Darüber hinaus belegt die praktische Erfahrung die Wirkung. Wenn z.B. Schulter- oder Rückenschmerz nach der Behandlung deutlich nachlässt, dann haben wir dem Patienten etwas Gutes getan.

Wie sehen Sie die Rolle der Chinesischen Medizin im deutschen Gesundheitssystem derzeit? Was würden Sie sich für die Zukunft wünschen?

Ganz konkret: Unser Ziel ist es, die Chinesische Medizin im deutschen Gesundheitssystem zu integrieren. Die Chinesische Medizin ist dort derzeit nicht präsent, ganz im Gegensatz zur Schweiz. Doch aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass die TCM bei Patienten bereits sehr geschätzt wird.

Die AGTCM vertritt als interdisziplinärer Fachverband zu 80% Heilpraktiker*innen. Wie sehen Sie die derzeitigen Diskussionen zur Zukunft des Heilpraktiker-Berufes? Welche Position vertritt Ihr Verband? Unterstützen Sie aktuelle Qualitätsoffensiven?

Es ist wichtig aktiv zu werden. Dies kann nur auf Basis einer qualitativ anspruchsvollen Aus- und Weiterbildung geschehen. Deshalb setzen wir uns gemeinsam mit den Heilpraktikerverbänden für einen einheitlichen und nachgewiesenen Qualitätsstandard der Heilpraktiker ein.

Woran können Patient*innen einen seriösen, gut ausgebildeten TCM-Therapeuten erkennen?

Die Therapeuten, die auf unserer Website auf der Therapeuten-Liste aufgeführt sind, erfüllen die von uns vorgegebenen hohen Anforderungen an die Ausbildung und sind auch bereit, sich regelmäßig fortzubilden. Allein die Akupunkturausbildung dauert in der Regel drei Jahre.

Wie kamen Sie persönlich zur Chinesischen Medizin? Was hat sie am meisten überzeugt bzw. fasziniert?

Mich hat bereits als Teenager die asiatische Kultur angesprochen. Später arbeitete ich als Biologin in der medizinischen Forschung. Und hatte dort auch Kontakt zu den asiatischen Kollegen. Als ich dann mit der Heilpraktikerausbildung fertig war und mich spezialisieren wollte, kam für mich nur die Chinesische Medizin in Frage. Mich fasziniert vor allem das philosophische Gedankengut mit einem starken Bezug zu den Naturgesetzen und der Ansatz, den Menschen ganzheitlich zu betrachten. Die Lösung des gesundheitlichen Problems wird nicht auf die Reduktion von z.B. funktionellen Rückenschmerzen beschränkt, sondern es wird nach einer „systemischen“ Ursache im Menschen gesucht, um dann regulierend einzugreifen.

Dr. rer. nat. Martina Bögel-Witt studierte Biologie mit abschließender Promotion in Hamburg und führt seit 2012 als Heilpraktikerin eine eigene Praxis für Naturheilkunde und Chinesische Medizin sowie seit 2018 ein Zentrum für Bewegungskultur und gesunde Lebensweise.

Martina Bögel-Witt ist als Referentin auf medizinischen und sportlichen Fachveranstaltungen aktiv und leitet einen Qualitätszirkel für TCM-Therapeuten/Therapeutinnen der AGTCM. Sie ist Autorin zahlreicher medizinischer Fachpublikationen. In Kooperation mit dem Ausbildungszentrum CCM Nord der AGTCM bietet sie eine Lehrpraxis (Ambulatorium) für die Schüler an.

Seit August 2019 erfüllt sie die Funktion der 1. Vorsitzenden der AGTCM (Arbeitsgemeinschaft für Klassische Akupunktur und Traditionelle Chinesische Medizin).

Hintergrund zur Traditionellen Chinesischen Medizin

  • Die TCM hat eine jahrtausendealte Tradition.
  • Das Universum wird als zyklischer, kontinuierlicher Prozess der Wandlung angesehen. Dies betrifft auch den Menschen und wird z.B. durch das Yin und Yang-Symbol zum Ausdruck gebracht.
  • Der dialektische Ansatz von „ja“ oder „nein“ ist der TCM eher fremd. Sie betrachtet eher relativ, im Sinne von „zu wenig“ oder „zu viel“ mit der Zielsetzung, die Balance wiederherzustellen.
  • Körper und Seele werden zur Beurteilung des Gesundheitszustandes gleichermaßen betrachtet.
  • Zu den therapeutischen Säulen der TCM gehören die Chinesischen Arzneimittel, Akupunktur, die manuellen Techniken (Tuina), die Chinesische Diätetik und die Bewegungstherapie (Qigong /Taijiquan).
  • Beim therapeutischen Vorgehen wird nicht nur das Symptom, sondern i.d.R. auch die zugrundeliegende „Wurzel“ (das Syndrom) mit behandelt, um den Gesundungsprozess in Gang zu bringen.