Herr Prof. Matthes, Sie haben einen Stiftungslehrstuhl an der Charité – wie reagieren die Studierenden auf das Angebot?   

Prof. Dr. Harald Matthes: Da gibt es oft ein Aha-Erlebnis. Viele denken zunächst, dass so etwas ja nicht wissenschaftlich sein kann. In meinen wissenschaftstheoretischen Veranstaltungen lasse ich die Studierenden dann recherchieren: Wie wirkt z. B. Akupunktur? Was gibt es für Indikationen? Liegen Metaanalysen vor? Wie sicher ist die Methode? Die meisten denken bis zu diesem Zeitpunkt, es gäbe gar keine Studien. Dann merken sie, dass es große Metaanalysen und systematische Reviews gibt, die beweisen, dass Akupunktur für bestimmte Krankheitsbilder deutlich effektiver ist als die konventionelle Medizin. In den Leitlinien findet sich darüber allerdings nichts. Damit kommt es zu einem zweiten Aha-Erlebnis, nämlich der Erkenntnis, dass die Leitlinien zu den verschiedenen Krankheitsbildern offenbar nicht immer neutral oder wissenschaftlich sind, sondern dass ganz offenbar auch gesundheitspolitische Faktoren mit im Spiel sind, wenn entschieden wird, was in die Leitlinien aufgenommen wird und was nicht.

Welche Forschungsschwerpunkte setzen Sie?

H.M.: Es geht mir vor allem darum zu untersuchen, wie effektiv anthroposophische Therapien bei verschiedenen Krankheitsbildern sind und wie man ihren Einsatz weiter differenzieren kann. Dazu laufen Studien in der Onkologie, besonders zur Misteltherapie und zu multimodalen Therapiekonzepten, zu chronisch entzündlichen Darmerkrankungen und weiteren Krankheitsfeldern. Ein wichtiger Schwerpunkt sind zudem Studien zur Mikrobiota, das ist die Gesamtheit der Mikroorganismen in unserem Körper – im Darm, auf der Haut, im Mund und an vielen weiteren Orten.

Was verstehen Sie unter einem differenzierten Einsatz anthroposophischer Therapien?

H.M.: Man kann ja grundsätzlich alle anthroposophischen Therapien nach dem Gießkannenprinzip allen Patienten zukommen lassen. Aber wir wissen, dass bestimmte Therapien bei bestimmten Krankheitsbildern besonders effektiv sind. Deshalb fragen wir: Welche sind wann besonders nützlich? Wann ist z. B. eine Maltherapie besser als eine Musiktherapie? Wann ist eine Bewegungstherapie besonders sinnvoll? Wie viele Behandlungen braucht der Patient zusätzlich zur konventionellen Therapie, und ab wann bringen diese keinen zusätzlichen Nutzen mehr?

Welchen Maßstab legen Sie dabei an?

H.M.: Das Konzept der Anthroposophischen Medizin beruht auf Selbstregulation. Deshalb schauen wir, wieviel Anregung und Unterstützung ein/e Patient*in braucht und ab wann die Effektstärke deutlich abnimmt. Ziel ist es, spezifische multimodale Therapiekonzepte zu entwickeln nach dem Motto: so viel wie nötig, aber nicht alles, was möglich wäre. Denn auch unsere Mittel sind limitiert.

Gibt es weitere Schwerpunkte?

H.M.: Uns interessiert, was Patient*innen selbst über ihr Krankheitsbild denken und warum sie zur Komplementärmedizin greifen. Wir wollen wissen, was sie als erfolgreich ansehen und wie sie bestimmte Therapieformen bewerten. Das wiederum gleichen wir mit der Einschätzung von Therapeut*innen, Ärzt*innen und Pflegenden ab, um ein umfassendes Bild zu gewinnen. Die subjektive Bewertung des Patienten über seine Fortschritte ist sehr wichtig, um auch aus dieser Perspektive eine Therapieoptimierung zu erreichen. 

Wie ist denn heute der Forschungsstand zur Komplementärmedizin?

H.M.: Wir haben dazu mittlerweile eine solide Forschung, es gibt sehr viele Studien zu den sogenannten übenden Verfahren, insbesondere zu Achtsamkeit und Yoga: Zu Yoga liegen über 2.000 Studien vor. Zu Achtsamkeit, Musiktherapie, Sprachtherapie und Maltherapie ca. 600 Studien. Allerdings kommt diese Forschung nicht in der Mainstream-Medizin an. Ich bin immer wieder entsetzt, wenn ich bei einer Leitlinienarbeit für bestimmte Krankheitsbilder merke, dass es zwar sehr viele Studien gibt, die zeigen, wie effektiv Yoga, TCM oder bestimmte multimodale Therapiekonzepte aus der Integrativen Medizin sind, aber die Mehrheit der Ärzte weiß nichts davon, ganz zu schweigen von der Bevölkerung. Wir müssen solche Ergebnisse viel breiter kommunizieren.

Wie sieht es denn mit öffentlichen Forschungsgeldern bzw. öffentlichen Lehrstühlen für Komplementärmedizin aus?

H.M.: Es gibt derzeit keine öffentlich geförderten Lehrstühle für Komplementärmedizin in Deutschland, alle elf Lehrstühle in Deutschland sind Stiftungslehrstühle, die von privaten Förderern eingerichtet wurden. Einen ersten öffentlichen Lehrstuhl will nun das Land Baden-Württemberg in Tübingen etablieren, auch Bayern plant einen solchen Lehrstuhl. Aber das sind allenfalls erste Schritte zu einer größeren Anerkennung der Komplementärmedizin. Die freie Forschungsförderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, das Bundesministerium für Bildung und Forschung und die Europäische Union berücksichtigen die Komplementärmedizin nur in geringstem Umfang. Derzeit gehen nur 0,01 Prozent der Forschungsförderung in die Komplementärmedizin.

Obwohl Patienten Komplementärmedizin in so hohem Maß nachfragen?

H.M.: Ja, das ist ein unglaubliches Missverhältnis. Forschung zur Komplementärmedizin darf keine Nischenforschung mehr sein, es muss Förderprogramme und damit ein politisches Signal geben, dass Komplementärmedizin gewollt und notwendig ist!

Welchen Stellenwert hat die Einschätzung des Patienten in der Forschung? Man hat oft den Eindruck, dass das subjektive Empfinden, etwa dass Naturmedizin hilft und erfolgreich ist, für viele Wissenschaftler gar keine Rolle spielt.

H.M.: Aus meiner Sicht sollte die Einschätzung des Patienten einen sehr hohen Stellenwert in der Forschung haben. Wir müssen uns doch fragen: Wer außer dem Patienten kann eigentlich beurteilen, ob etwas gewirkt hat oder nicht? Welcher Arzt maßt sich an, besser beurteilen zu können, ob etwas geholfen hat? Das lässt sich ja nur zum Teil objektiv messen. Allein die Tatsache, dass ich als Arzt in einem Gelenk eine Beweglichkeit von 110 Grad messe, sagt nichts darüber aus, ob der Patient diese Bewegung womöglich nur unter Schmerzen ausführen kann. Für den Patienten macht es aber einen großen Unterschied, ob er das Gelenk schmerzfrei bewegen kann oder nicht. Insofern kann er Effekte am besten beurteilen. Erkenntnismäßig ist er sogar der einzige, der beurteilen kann, ob etwas wirkt. Darum sollte er im Mittelpunkt der Forschung stehen und nicht irgendwelche objektiven Messparameter.

Das Interview führte Sandra Giannakoulis-Markus. In voller Länge ist es im Magazin GESUNDHEIT AKTIV Nr 13/14 erschienen. Sie können das Interview anfordern unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! 

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