Vollständige Analyse des Gegenentwurfs des Bundesvorstands
21.11.2025. Die Debatte um Homöopathie innerhalb der Partei Bündnis 90/ Die Grünen ist in den letzten Wochen (wieder mal) hochgekocht. In dieser Situation hat der Bundesvorstand einen eigenen Gegenentwurf vorgelegt. Man sieht dem Text deutlich an, dass er versucht, die aufgeheizte Stimmung zu beruhigen und Brücken zwischen unterschiedlichen Positionen zu schlagen. Er beruht im wesentlichen auf einem Vorschlag von Robert Habeck 2020, der die Diskussion innerhalb einer Arbeitsgruppe rund um die Integrative Medizin mit diesem Vorschlag beendete. Leider löst der Entwurf die vorhandenen Spannungen nicht wirklich auf. Er wirft neue Fragen auf, die auf politischer und fachlicher Ebene relevant sind.
Im Folgenden fassen wir zusammen, was gut gemeint ist und wo aus unserer Sicht weiterhin Risiken bestehen.
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1. Positiv: Der Entwurf versucht sichtbar zu vermitteln
Der Bundesvorstand verzichtet bewusst auf scharfe Formulierungen. Stattdessen:
- betont er Wahlfreiheit
- erkennt die Bedeutung sprechender Medizin an
- signalisiert Offenheit für unabhängige Forschung
- grenzt sich nicht gegen Integrative Medizin ab
- nimmt die Bürgerperspektive zumindest rhetorisch ernst
Das ist im politischen Kontext keineswegs selbstverständlich. Es zeigt, dass die massive Bürgerreaktion angekommen ist und innerhalb der Partei etwas bewegt.
2. Aber: Der Entwurf bleibt fachlich inkonsistent
Trotz des versöhnlichen Tons enthält der Text mehrere problematische Punkte:
a) Fokus ausschließlich auf die Homöopathie
Der Entwurf behandelt ausschließlich die Homöopathie. Damit entsteht der Eindruck der Sonderbehandlung einer Therapierichtung, die politisch kaum durchsetzbar sein dürfte.
Derzeit sind drei „besonderen Therapierichtungen“ sind gemeinsam gesetzlich verankert:
- Homöopathie
- Anthroposophische Medizin
- Phytotherapie
Abgesehen davon, dass diese Regelung überarbeitungsbedürftig ist, wäre eine isolierte Betrachtung der Homöopathie angreifbar und auch politisch nicht sachgerecht.
b) Eingriff in die besonderen Therapierichtungen. Mit Nebenwirkungen
Zwischen den Zeilen wird vorgeschlagen, die privilegierte Stellung der besonderen Therapierichtungen im Sozialgesetzbuch zu verändern.
Wenn man das ernst nimmt, ginge es nicht nur um die Homöopathie, sondern um das gesamte integrative Spektrum.
Auch wenn das sicher nicht die Absicht ist, wäre das eine potenziell weitreichende Veränderung.
c) Wahltarife: Bezug auf ein System, das es gar nicht mehr gibt
Der Entwurf schlägt Wahltarife für homöopathische Leistungen vor. Das klingt pragmatisch. Problem:
- Die gesetzliche Grundlage für solche Wahltarife existiert nicht mehr.
- Die vorgeschlagene Ausgestaltung („solidarisch finanziert“) widerspricht der Grundidee von Wahltarifen.
- Eine Neuregelung müsste im Gesetzgebungsverfahren erst geschaffen werden. Ein politisch hoher Aufwand für ein Mini-Thema.
Der Entwurf wirkt daher eher wie ein symbolischer Kompromiss als ein realistisch umsetzbarer Vorschlag.
3. Die größte Leerstelle: Die Evidenzlage
Anders, als weiterhin in vielen Antworten von Abgeordneten behauptet, bestehen durchaus Anhaltspunkte für eine Wirksamkeit von Homöopathischen Arzneimitteln, auch jenseits des Placebo-Effektes. Mehrere Metaanalysen von randomisierten, placebokontrollierten Studien sowie ein ausführliches Review dieser Studien bestätigen diesen Befund. Darüber hinaus ignoriert der Antrag:
- Real-World-Outcome-Daten
- Labor- und Tiermodelle
- systematische Reviews mit positiven Effekten
In der öffentlichen Debatte ist dieser Evidenz-Mix angekommen. Im Entwurf des Bundesvorstands aber nicht. Das wirkt weniger wissenschaftlich als politisch motiviert.
4. Ein konstruktiver Weg nach vorne: Real-World-Outcome für alle
Statt die Homöopathie isoliert zu regulieren, wäre ein moderner Ansatz: Outcome-Forschung im Versorgungsalltag (Real World Data) für alle Therapierichtungen, auch die sogenannte konventionelle Medizin.
Das wäre:
- fair
- wissenschaftlich
- anschlussfähig
- innovativ
- politisch vermittelbar
Und es würde genau das tun, was viele Menschen sich wünschen: Ergebnisqualität messen statt nur Erwartungen an Evidenz aufgrund bestimmter Hypothesen zu wiederholen.
5. Fazit: Ein Entwurf mit guter Absicht, aber vielen offenen Fragen
Der Bundesvorstand versucht sichtbar, eine festgefahrene Debatte zu beruhigen. Das verdient Respekt.
Gleichzeitig bleibt der Entwurf:
- fachlich inkonsistent
- politisch schwer realisierbar
- juristisch fragwürdig
- und teilweise widersprüchlich formuliert
Damit ist er für die reale Versorgung wahrscheinlich unschädlich, weil er so kaum zur Grundlage eines Gesetzes werden könnte.
Aber für die innerparteiliche Debatte bleibt er ein Signal: Die Partei ringt mit der Frage, wie viel gut gemeinte Bevormundung sie ihren Wähler:innen zumuten möchte..
